Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit von Nebenangeboten beim Zuschlagskriterium "Preis"

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Vergabekammer ist befugt, die Vergabestelle zur Aufhebung der Ausschreibung zu verpflichten. Sie kann zur Einwirkung auf die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens auch Umstände berücksichtigen, die die Verfahrensbeteiligten infolge Präklusion nicht mehr geltend machen können.

2. Ein Verstoß gegen die europäische Vergabekoordinierungsrichtlinie 2004/18/EG kann - je nach Sachlage - mehr oder weniger gravierend ausfallen und ist nicht "abstrakt" als ein "schwerwiegender Grund" für die Aufhebung der (gesamten) Ausschreibung anzusehen.

3. Ein Verbot der Zulassung von Nebenangeboten beim alleinigen Zuschlagkriterium "Preis" ist der europäischen Vergabekoordinierungsrichtlinie nicht zu entnehmen.

4. Eine Divergenzvorlage an den BGH wird durch Entscheidungen in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes oder durch nicht entscheidungstragende Rechtssätze in Beschwerdeentscheidungen anderer Vergabesenate nicht veranlasst

5. Die Vergabestelle kann eine rechtmäßige Zuschlagsentscheidung nur treffen, wenn die maßgeblichen Anforderungen an die nachgefragte Leistung bzw. an zugelassene Nebenangebote (Varianten) von allen beteiligten - fachkundigen - Bietern im gleichen Sinne verstanden und ihren Angeboten zugrunde gelegt werden konnten. Das wird im Regelfall durch den klaren und vollständigen Inhalt der Leistungsbeschreibung bzw. durch die Angabe von transparenten Mindestanforderungen (Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18/EG) gewährleistet.

6. Unklarheiten in einer Leistungsbeschreibung führen - in erster Linie - dazu, dass sich die fachkundigen Bieter um eine Klärung bemühen müssen; die Vergabestelle ist gehalten, entsprechende Rückfragen der Bieter zu beantworten und die Antworten ggf. auch den anderen Wettbewerbsteilnehmern zugänglich zu machen (§ 17 Nr. 7 Abs. 1 VOB/A 2006). Das Gleiche gilt für Unklarheiten bei den Mindestanforderungen für Nebenangebote.

7. Eine für fachkundige Bieter nicht ohne weiteres erkennbare Unklarheit in der Leistungsbeschreibung oder in den angegebenen Mindestanforderungen für Nebenangebote führt dazu, dass diese ihrem Angebot ein fachlich vertretbares Verständnis der Ausschreibungsunterlagen zugrunde legen dürfen, ohne sich der Gefahr eines Angebotsausschlusses auszusetzen.

8. Stehen mehrere Angebote auf der Grundlage eines jeweils verschiedenen - fachlich vertretbaren - Verständnisses der Ausschreibungsbedingungen miteinander im Wettbewerb, kann daraus eine dem Transparenz- und Gleichbehandlungsgrundsatz entsprechende Vergabeentscheidung nicht mehr abgeleitet werden.

9. Die Vergabestelle kann, "angestoßen" durch ein Nebenangebot, ihre Beschaffungsabsicht ändern. Eine solche Änderung kommt als Grundlage für eine Zuschlagsentscheidung (erst) in Betracht, wenn die geänderte Beschaffungsabsicht allen Bietern bekannt gegeben wird.

10. Das Beschwerdegericht kann anordnen, dass die Vergabestelle eine erforderliche Klarstellung der Mindestanforderungen für Nebenangebote herbeiführt, so dass die noch am Vergabeverfahren teilnehmenden Bieter Gelegenheit erhalten, innerhalb einer angemessenen Frist ihre Angebote zu überprüfen und ggf. anzupassen oder zu erneuern.

 

Normenkette

EGRL 18/2004 Art. 24 Abs. 1-2, Art. 53 Abs. 1; GWB § 97 Abs. 1-2, 5, § 107 Abs. 3, § 114 Abs. 1 S. 2, §§ 123, 124 Abs. 2; VOBA1 2006 § 17 Abs. 1 Nr. 7; VOBA1 2006 § 25 Abs. 3 Nr. 3; VOBA1 2006 § 26 Nr. 1

 

Verfahrensgang

Vergabekammer Schleswig-Holstein (Beschluss vom 08.10.2010; Aktenzeichen VK-SH 13/10, VK-SH 14/10)

 

Tenor

1. Auf die sofortigen Beschwerden der Beschwerdeführerin zu 1) und zu 2) und die Anschlussbeschwerde der Beteiligten werden die Beschlüsse der Vergabekammer Schleswig-Holstein beim Ministerium für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr vom 8.10.2010 - VK-SH 13/10 und VK-SH 14/10 - geändert.

Die Beschwerdegegnerin wird verpflichtet,

a. das Vergabeverfahren "Straßenbauarbeiten B., zweiter Bauabschnitt (N.-E.)" in das Stadium vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen;

b. gegenüber der Beschwerdeführerin zu 1) bzw. zu 2) und der Beteiligten die Ziff. 1.5 der Leistungsbeschreibung - Mindestbedingungen für Nebenangebote - dahingehend klarzustellen, unter welchen Voraussetzungen auch vertikale und nicht-vertikale Gründungselemente zugelassen werden;

c. den gem. b. beteiligten Bietern anschließend Gelegenheit zu geben, ihre Angebote zu überprüfen und ggf. anzupassen und/oder zu erneuern; dafür ist eine angemessene Angebotsbearbeitungsfrist zu gewähren und

d. die Angebotsprüfung und -wertung sodann zu wiederholen.

Im Übrigen werden die sofortigen Beschwerden der Beschwerdeführerin zu 1) bzw. der Beschwerdeführerin zu 2) und die Anschlussbeschwerde der Beteiligten zurückgewiesen.

2. Die außergerichtlichen Kosten und die gerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen zu einem Drittel die Beschwerdegegnerin und zu je zwei Neunteln die Beschwerdeführerin zu 1), die Beschwerdeführerin zu 2) und die Beteiligte, wobei der Berechn...

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