Leitsatz (amtlich)

1. Betreffen die gerügten Vergabefehler unmittelbar die Wertung der Angebote und hat sich der Verstoß gegen die Vergabevorschriften im Verlauf des Vergabeverfahrens noch nicht abgezeichnet, so genügt der Antragsteller den Voraussetzungen des § 107 Abs. 3 GWB bereits dann, wenn er innerhalb der Frist des § 107 Abs. 3 GWB unmittelbar das Nachprüfungsverfahren einleitet. Auf eine gleichzeitige Rüge gegenüber dem Auftraggeber kommt es nicht an.

2. Auch ein nach § 21 Nr. 1 Abs. 1 VOB/A unvollständiges Angebot ist in die Wertung aufzunehmen, wenn die Unvollständigkeit des Angebots die Beurteilung seiner Funktionalität durch die Vergabestelle in keiner Weise beeinträchtigt, seine sachlichen oder preislichen Lücken lediglich verhältnismäßig geringfügige Details betreffen und in der kalkulatorischen Zusammenschau aller abgegebenen Angebote die Wettbewerberstellung des Bieters evident nicht ändern, die Zulassung des Angebots keinen Manipulationen Vorschub leistet und keine sonstigen besonderen Umstände vorliegen, die das Verhalten des Bieters in einem unlauteren Licht erscheinen lassen.

3. Führen Unvollständigkeiten des Angebots eines Bieters zu Recht zu seinem Ausschluss, so verletzt das Vergabeverfahren insgesamt das vergaberechtliche Gleichbehandlungsgebot, wenn die Vergabestelle mit einem anderen Bieter trotz gleichfalls vorliegender Unvollständigkeiten von dessen Angebot nachverhandelt. In einem solchen Fall kann nur durch die Aufhebung der Ausschreibung Abhilfe geschaffen werden, da eine Nachverhandlung und damit eine Gleichbehandlung im Unrecht rechtlich nicht zulässig ist.

 

Normenkette

GWB §§ 97, 107 Abs. 3; VOB/A § 21

 

Verfahrensgang

Vergabekammer des Saarlandes (Aktenzeichen 3 VK 2/01)

 

Nachgehend

BGH (Beschluss vom 17.03.2004; Aktenzeichen IV ZB 21/02)

 

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Beigeladenen wird der Beschluss der Vergabekammer des Saarlandes vom 26.10.2001 aufgehoben. Der Antrag der Antragstellerin, die Antragsgegnerin zu verpflichten, das Angebot der Antragstellerin in die Wertung aufzunehmen, wird zurückgewiesen.

2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer, jeweils einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen.

3. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 718.725,79 DM festgesetzt.

 

Gründe

I. Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Vergabe eines Auftrags zur Sanierung und Erweiterung der Kläranlage B.

Die Antragsgegnerin führte als Vergabestelle nach einem europaweit durchgeführten öffentlichen Teilnahmewettbewerb eine beschränkte Ausschreibung mit acht ausgewählten Bietern/Bietergemeinschaften durch und beauftragte das Ingenieurbüro W. GmbH mit entsprechenden Planungsleistungen. Die Projektsteuerung wurde der W.Os. GmbH übertragen. Die Ausschreibung erfolgte als funktionale Ausschreibung nach einem sehr detaillierten, Elemente eines Leistungsverzeichnisses aufnehmenden Leistungsprogramm. In den Ausschreibungsunterlagen finden sich u.a. folgende Vorschriften:

Ziff. 5.1 der Bewerbungsbedingungen:

„Nebenangebote sind nicht zugelassen. Alternativangebote sind zugelassen (z.B. Membranverfahren). Alternativangebote sind Angebote, die sich im Rahmen des Leistungsprogramms bewegen und zusätzlich zum Hauptangebot abgegeben werden.”

S. 2 des Leistungsprogramms:

„Das Hauptangebot muss die Anforderungen des Leistungsprogramms in allen Punkten erfüllen. Optionen dürfen nur zusätzlich angeboten werden.”

S. 69 des Leistungsprogramms:

„Es können Sonderverfahren oder auch die Kombination verschiedener Sonderverfahren für die biologische Abwasserreinigung auf der Kläranlage B. eingesetzt werden. Bei Anwendung von Sonderverfahren sind unbedingt die dem Leistungsprogramm beigefügten Datenblätter und Bemessungslisten zu verwenden. Es ist erforderlich, die nachfolgend aufgelisteten Vorgaben zu erfüllen bzw. die gestellten Fragen umfassend zu beantworten. Wird die Forderung nicht eingehalten, kann das Angebot von der Wertung ausgeschlossen werden.”

„Die im Folgenden aufgeführten Sonderverfahren (Biofilmverfahren, SBR) sind als Hauptangebot zugelassen. Die in Kapitel 4.2.2.5 getroffenen Vorgaben zur Bemessung von Anlagen mit den genannten Verfahren sind unbedingt zu berücksichtigen.”

Alle acht Bieter reichten Angebote ein. Der Eröffnungstermin fand am 23.4.2001 statt. Nach Überprüfung und Berücksichtigung der Angebotsoptionen ergab sich für die Antragstellerin eine Bruttoangebotssumme von 10.808.592,44 DM und für die Beschwerdeführerin von 14.374.515,84 DM.

Am 26.6.2001 fand bei der Antragsgegnerin ein Aufklärungsgespräch mit der Beschwerdeführerin statt. Am 28.6.2001 und in der 26. Kalenderwoche teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin telefonisch mit, dass das Angebot aus der weiteren Wertung ausgeschlossen werden solle, und kündigte eine schriftliche Begründung an. Mit Schreiben vom 2.8.2001 forderte die Antragstellerin die schriftliche Begrü...

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