Rn 8

Als Verkehrssitte bezeichnet man eine in den betreffenden Verkehrskreisen bestehende, einverständliche Übung (RGZ 55, 377; BGH LM Nr 1 zu § 157 (B); Staud/Singer § 133 Rz 65; Soergel/Wolf § 133 Rz 63). Von einer Übung kann man regelmäßig nur dann sprechen, wenn eine große Zahl von Rechtsgeschäften zwischen verschiedenen Rechtskreisteilnehmern über einen langen Zeitraum nach demselben Muster erfolgt ist (BGHZ 111, 110, 112 = NJW 90, 1723, 1724; Kobl NJW-RR 88, 1306). Sie kann allerdings auch bei verhältnismäßig seltenen Geschäften aufgrund nur relativ weniger Transaktionen entstehen (BGH NJW 66, 502 [BGH 01.12.1965 - VIII ZR 271/63] für den Verkauf von Schiffen) und sich andererseits auch innerhalb eines recht kurzen Zeitraums herausbilden, wenn währenddessen sehr viele Verträge nach demselben Muster abgeschlossen werden (Staud/Singer § 133 Rz 65).

 

Rn 9

Beispiele für bestehende Verkehrssitten kommen va aus dem Handelsrecht. Hier sind insb die INCOTERMS der ICC (vgl www.incoterms.com) und andere standardisierte Klauseln wie ›Kasse gegen Dokumente‹ zu nennen. Im Handelsrecht fällt die Verkehrssitte definitorisch mit den Handelsbräuchen zusammen (K. Schmidt HandelsR § 1 III 3a). Allerdings finden Handelsbräuche nach § 346 HGB nur dann Anwendung, wenn die Parteien Kaufleute sind. Soweit ein Handelsbrauch allerdings branchentypisch ist (dazu Rn 12), gilt er als Verkehrssitte über § 157 auch für die Auslegung von branchenzugehörigen Geschäften unter Beteiligung von Nicht-Kaufleuten (Kobl NJW-RR 88, 1306 [OLG Koblenz 10.03.1988 - 6 U 1286/85]; K. Schmidt HandelsR § 3 II 1).

 

Rn 10

In Abgrenzung dazu spricht man von Gewohnheitsrecht, wenn sich eine Verkehrssitte normativ verfestigt hat. Die Annahme von Gewohnheitsrecht setzt also voraus, dass die entspr Norm als Rechtssatz von den Rechtsgenossen anerkannt wird. Gewohnheitsrecht ist objektives Recht und gilt daher als (dispositiver) Rechtssatz und nicht nur als Auslegungsgrundsatz. Es bedarf somit für sein Eingreifen keines weiteren Geltungsgrundes, wie ihn etwa im Falle des § 157 der zwischen den Parteien bestehende Vertrag oder beim Handelsbrauch § 346 HGB liefert.

 

Rn 11

Die Abgrenzung zwischen Verkehrssitte und Gewohnheitsrecht ist schwierig und wird weiter dadurch verkompliziert, dass auch für die Anerkennung einer Verkehrssitte von der hM eine entsprechende gemeinsame Pflichtenvorstellung (BGH NJW 94, 659, 660) der beteiligten Kreise oder jedenfalls deren Zustimmung verlangt wird (BGHZ 111, 110, 112 = NJW 90, 1723). Keine Anerkennung verdient danach insb ein Brauch, den eine Interessengruppe durch Ausnutzung wirtschaftlicher Überlegenheit einseitig durchsetzt (RGZ 101, 75; München BB 55, 748; Köln BB 57, 910). Auch eine Verkehrssitte, die mit einer abschließenden gesetzlichen Regelung im Widerspruch steht, ist nicht zu berücksichtigen (BayObLG NJW-RR 96, 995).

 

Rn 12

Der Verkehrssitte kommt nur dann Bedeutung als Auslegungsgrundsatz zu, wenn zum einen das Geschäft dem entspr Verkehr sachlich zuzuordnen ist und zum anderen beide Vertragspartner Angehörige des Verkehrskreises sind. Räumlich kommt es auf den Ort an, zu dem das betreffende Geschäft den engsten Bezug hat (BGHZ 6, 134; Soergel/Wolf Rz 66; anders – Ort, an dem die Erklärung abgegeben wurde – MüKo/Busche Rz 24). Es ist allerdings auch möglich, dass die Parteien ihr Geschäft einer bestimmten regional geltenden Verkehrssitte unterwerfen.

 

Rn 13

Nicht erforderlich ist, dass dem Erklärenden oder dem Erklärungsempfänger das Bestehen der Verkehrssitte bekannt war (BGH LM Nr 1 zu § 157 (B); Frankf NJW-RR 86, 912 [OLG Frankfurt am Main 23.04.1986 - 17 U 155/84]). Beim Erklärenden ergibt sich dies schon daraus, dass die Auslegung nicht nach seinem Verständnishorizont erfolgt. Für den Erklärungsempfänger genügt es, wenn ihm das Bestehen der Übung hätte bekannt sein können. Dies ergibt sich aus der Objektivierung der Auslegung, die nicht nach dem Verständnishorizont des konkreten Empfängers fragt, sondern nach dem eines durchschnittlichen Verkehrskreisteilnehmers, dem eine Verkehrssitte eben gerade wegen ihrer Bedeutung als dauernde Übung bekannt ist.

 

Rn 14

Als Auslegungsgrundsatz kann die Verkehrssitte iRv § 157 nur relevant werden, wenn die Parteien keinen abweichenden entgegenstehenden Willen gebildet haben. Die Erklärung oder der Vertrag muss insoweit auslegungsfähig sein (§ 133 Rn 15). Im Prozess ist für das Bestehen eines Handelsbrauchs bzw einer Verkehrssitte derjenige beweispflichtig, der sich darauf beruft. Der Beweis kann durch ein Gutachten der zuständigen Handelskammer geführt werden (vgl BGH WM 76, 292; Frankf NJW-RR 01, 1498 [OLG Frankfurt am Main 20.12.2000 - 17 U 91/98] Rücktrittsrecht eines Reiseveranstalters von einer Hotelreservierung). Die Feststellung des Bestehens der Verkehrssitte ist Tatfrage und obliegt damit den Tatsacheninstanzen.

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