Gesetzestext

 

Für die weitergehenden Wirkungen des Musterentscheids gelten die Vorschriften des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes.

A. Normzweck.

 

Rn 1

Die Vorschrift wurde durch Art 2 Ziff 3 des KapMuG in die ZPO eingeführt. Sie trat zum 1.1.05 in Kraft und war an seine Geltungsdauer gebunden. Nach einer Verlängerung der Geltungsdauer um zwei Jahre trat das bisherige KapMuG zum 1.11.12 außer Kraft. Zugleich wurde durch das KapMuG-ReformG eine zum 1.11.12 in Kraft tretende Neufassung verabschiedet, die zunächst bis 31.10.20 befristet war, im September 2020 aber bis 31.12.23 verlängert wurde. Die korrespondierende Vorschrift in der ZPO hat keinen eigenen Regelungsgehalt, sondern eine bloße Hinweis- und Klarstellungsfunktion, indem sie für die Wirkungen des Musterentscheids auf das KapMuG verweist. Dabei dürfte die Wortwahl ›weitergehende‹ Wirkungen nicht so zu interpretieren sein, dass die Vorschriften des KapMuG neben die Vorschriften der ZPO über die Rechtskrafterstreckung treten. Das KapMuG normiert vielmehr anstelle einer Rechtskrafterstreckung eine eigene innerprozessuale Bindungswirkung, welche über den Entscheidungssatz hinaus auch die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen des Musterentscheids erfasst und damit in ihrem Umfang über die Rechtskrafterstreckung nach der ZPO weit hinausgeht (vgl KK-KapMuG/Hess § 22 Rz 5).

B. Bedeutung des Musterentscheids.

 

Rn 2

Da der ZPO eine Sammelklage grds fremd ist und sie nur eine Verfolgung einzelner Ansprüche ermöglicht, bietet sie keine Lösung für die sog Streuschäden, bei denen eine Vielzahl von Geschädigten betroffen sind, der den Einzelnen treffende Schaden aber regelmäßig nicht so hoch ist, dass sich für diesen die Rechtsverfolgung wirtschaftlich lohnt (Möllers/Weichert NJW 05, 2737). Für den Bereich des Wettbewerbsrechts hat der Gesetzgeber bei Streuschäden den umstrittenen und wenig praktikablen Weg der Gewinnabschöpfung nach § 10 UWG gewählt. Für Streuschäden aufgrund von falschen, irreführenden oder unterlassenen öffentlichen Kapitalmarktinformationen, zB durch unrichtige Prospekte oder überzogene Meldungen zu Gewinnerwartungen, versucht der Gesetzgeber mit dem KapMuG einen anderen Weg einzuschlagen. Dieses sieht in Massenverfahren die Durchführung eines Musterverfahrens vor dem OLG vor. Hierzu kommt es, wenn in mindestens zehn erstinstanzlichen Schadensersatzprozessen innerhalb von sechs Monaten gleichgerichtete Musterverfahrensanträge gestellt werden. Das Prozessrisiko verringert sich für den einzelnen Kl insb dadurch erheblich, dass die oft umfangreiche und damit zeit- und kostenintensive Beweisaufnahme nicht für jedes einzelne Verfahren, sondern nur einmal erfolgen muss. Die Reform des KapMuG hat zu einer Erweiterung des Anwendungsbereiches geführt. Mit der Ausweitung in § 1 I Nr 2 KapMuG hat der Gesetzgeber das Verfahren auf bürgerliche Rechtsstreitigkeiten betreffend Schadensersatzansprüche wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformation erstreckt (hierzu Vorwerk/Wolf/Radtke-Rieger KapMuG, § 1 Rz 14).

C. Wirkungen des Musterentscheids.

 

Rn 3

Nicht nur in der Art der Entscheidung, sondern va auch in seiner Wirkung unterscheidet sich der Musterentscheid von sonstigen gerichtlichen Entscheidungen. § 22 I 1 KapMuG ordnet zunächst eine innerprozessuale Bindungswirkung der Prozessgerichte an den Musterentscheid an, vergleichbar dem früheren Rechtsentscheid in Mietsachen.

 

Rn 4

Trotz der Stellung der Verweisungsnorm hinter § 325 wird die weitergehende Wirkung des Musterentscheids für und gegen alle Parteien nicht durch eine Rechtskrafterstreckung auf Dritte erzielt. Die Wirkung ist hinsichtlich der Bindung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht sowie des Einwands der mangelhaften Prozessführung vielmehr der Interventionswirkung der §§ 68, 74 nachgebildet (dazu Meller-Hannich ZBB 11, 180, 188). Sie unterscheidet sich jedoch von der Interventionswirkung dadurch, dass es nicht um die Vorgreiflichkeit für einen Folgeprozess zwischen einer der Parteien und einem Dritten geht, sondern eine unmittelbare Wirkung des Musterentscheids für die Beteiligten von Parallelprozessen eintritt. Alle diejenigen Beteiligten, deren Verfahren aufgrund des Musterverfahrens nach § 8 KapMuG ausgesetzt wurden und die damit nicht Musterkläger oder Musterbeklagter sind, haben nach § 9 I Nr 3 KapMuG die Stellung von Beigeladenen. Der Musterentscheid wirkt für und gegen alle Beigeladenen, unabhängig davon, ob sich diese beteiligt haben, § 22 I 2 KapMuG. Dies gilt auch dann, wenn diese ihre Klage in der Hauptsache nach dem Aussetzungsbeschluss zurückgenommen haben, § 22 I 3 KapMuG. Die Bindungswirkung zu Lasten der Beigeladenen wird in § 22 III KapMuG entsprechend § 68 Hs 2 beschränkt. Diese sind an den Musterentscheid dann nicht gebunden, wenn sie durch die Lage des Musterverfahrens zz ihrer Beiladung oder das Verhalten der Hauptpartei gehindert waren, Angriffs- oder Verteidigungsmittel geltend zu machen oder die Hauptpartei ihnen unbekannte Angriffs- oder Verteidigungsmittel absichtlich oder durch grobes Verschulden nicht geltend gemacht hat. ...

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