Gesetzestext

 

(1) Der Musterentscheid bindet die Prozessgerichte in allen nach § 8 Absatz 1 ausgesetzten Verfahren. Unbeschadet des Absatzes 3 wirkt der Musterentscheid für und gegen alle Beteiligten des Musterverfahrens unabhängig davon, ob der Beteiligte alle im Musterverfahren festgestellten Tatsachen selbst ausdrücklich geltend gemacht hat. Dies gilt auch dann, wenn der Musterkläger oder der Beigeladene seine Klage im Ausgangsverfahren nach Ablauf der in § 24 Absatz 2 genannten Frist zurückgenommen hat.

(2) Der Beschluss ist der Rechtskraft insoweit fähig, als über die Feststellungsziele des Musterverfahrens entschieden ist.

(3) Nach rechtskräftigem Abschluss des Musterverfahrens werden die Beigeladenen in ihrem jeweiligen Rechtsstreit mit der Behauptung, dass der Musterkläger das Musterverfahren mangelhaft geführt habe, gegenüber den Musterbeklagten nur insoweit gehört,

1. als sie durch die Lage des Musterverfahrens zur Zeit der Aussetzung des von ihnen geführten Rechtsstreits oder durch Erklärungen und Handlungen des Musterklägers verhindert worden sind, Angriffs- oder Verteidigungsmittel geltend zu machen, oder
2. als Angriffs- oder Verteidigungsmittel, die ihnen unbekannt waren, vom Musterkläger absichtlich oder durch grobes Verschulden nicht geltend gemacht sind.

(4) Mit der Einreichung des rechtskräftigen Musterentscheids durch einen Beteiligten des Musterverfahrens wird das Ausgangsverfahren wieder aufgenommen.

(5) Der Musterentscheid wirkt auch für und gegen die Beteiligten, die dem Rechtsbeschwerdeverfahren nicht beigetreten sind.

A. Zweck und dogmatische Einordnung.

 

Rn 1

Die Vorschrift stellt in Abs 1 S 1 zunächst klar, dass der Musterentscheid eine innerprozessuale Bindungswirkung entfaltet, weil das Musterverfahren Teil eines einheitlichen Prozesses zwischen Musterkläger und Musterbeklagten ist (KK-KapMuG/Hess Rz 4). Daneben wird in Abs 2 dem Musterentscheid die Fähigkeit der Rechtskraft zuerkannt; dazu passt die insoweit aber nur deklaratorische Vorschrift des § 325a ZPO. Herzstück der Vorschrift ist die Bindungswirkung des Musterentscheids für und gegen die Beigeladenen, die hier wie bei § 14 KapMuG in bewusster Anlehnung an die Figur der Nebenintervention und deren in § 68 ZPO geregelte Wirkung konzipiert und formuliert wurde (BTDrs 15/5091, 31). In der Literatur wird tw eine abweichende Einordnung dieser Bindungswirkung im Sinne einer Rechtskrafterstreckung vorgeschlagen (Gebauer ZZP 119, 159, 174 f; Lüke ZZP 119, 131, 155; ausf Leser Die Bindungswirkung des Musterentscheids nach dem KapMuG 195 ff). Allerdings erscheint der Begriff der Rechtskraft hier kaum sinnvoll (Vorwerk/Wolf Rz 3 ff). Er bezieht sich im sonstigen Prozessrecht auf ein konkretes Rechtsverhältnis, während der Musterentscheid ggf nur Tatsachenfestellungen oder gar die Klärung abstrakter Rechtsfragen enthält. Der Begriff der Rechtskraft ist vom Gesetzgeber augenscheinlich nur eingeführt worden, um die Anerkennung des Musterentscheids innerhalb der EU zu befördern (dazu unten Rn 4; vgl BTDrs 15/5091, 30). In der Literatur wird daher mit Recht kritisiert, dass der Charakter des Musterverfahrens als Vorlageverfahren nicht zum Begriff der Rechtskraft passt (Wolf/Lange NJW 3751, 3756).

B. Innerprozessuale Bindungswirkung (Abs 1).

 

Rn 2

Im Verhältnis zwischen Musterkläger und Musterbeklagten ist das Prozessgericht vollständig und ohne Einschränkungen an den Inhalt des Musterentscheids einschließlich seiner Gründe gebunden (vgl Lüke ZZP 119, 131, 146 ff). Die Bindung entspricht § 318 ZPO, dh der Musterentscheid ist ebenso wie eine Entscheidung des Prozessgerichts zu behandeln. Dasselbe gilt gem Abs 1 für die ausgesetzten Verfahren der Beigeladenen mit den in Abs 3 genannten Einschränkungen (s unten Rn 7).

C. Materielle Rechtskraft des Musterentscheides (Abs 2).

I. Bedeutung.

 

Rn 3

Die in Abs 2 postulierte materielle Rechtskraft des Musterentscheids soll dessen konkrete Aussagen zu den Feststellungszielen des Musterverfahrens umfassen (BTDrs 17/8799, 26). Dabei ist es irrelevant, ob es sich um positive oder negative Feststellungen handelt, dh auch die Feststellung, dass ein Prospekt in bestimmter Hinsicht nicht fehlerhaft ist, ist von der Rechtskraft umfasst (vgl KG 3.3.09 Az 4 Sch 2/06 KapMuG Rz 245). Nähme man den Begriff der materiellen Rechtskraft hier ernst, so müsste diese sich wohl nicht nur auf das bereits anhängige Ausgangsverfahren erstrecken, sondern die Parteien des Musterverfahrens auch in weiteren Prozessen binden, soweit deren Entscheidung von der im Musterentscheid beantworteten Sach- oder Rechtsfrage abhängt (so KK-KapMuG/Hess Rz 9). Dagegen spricht aber, dass das Musterverfahren primär als Vorlageverfahren konzipiert ist, so dass eine Bindung an seine Ergebnisse über die ausgesetzten Verfahren hinaus systemwidrig wäre (vgl Vorwerk/Wolf Rz 4). Auch die Regierungsbegründung zum KapMuG 2012 scheint zu konzedieren, dass etwa eine ›Rechtskraftwirkung für abstrakte Entscheidungen zur Auslegung materiellen Rechts‹ über das Ausgangsverfahren hinaus nicht in Betracht kommt und bezieht den Begriff der Rechtskraft auf den Lebenssachverhalt der Ausgangsverfahren (BTDrs 17/8799, 26).

II. Fälle mit Auslandsberührung.

 

Rn 4

Die Zu...

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