Rn 16

Für das Bestehen einer gerichtlichen Hinweispflicht kommt es als wesentliches Moment entscheidend auf den Überraschungseffekt bei den Parteien an. Eine solche Überraschung kann sich daraus ergeben, dass das Gericht von der übereinstimmenden Beurteilung der Parteien hinsichtlich eines Gesichtspunkts abweicht (S 2) oder daraus, dass das Gericht einen Gesichtspunkt für maßgeblich hält, den eine Partei übersehen oder für unerheblich gehalten hat (S 1). Das Gericht hat diese Frage unter Zugrundelegung des bisherigen Inhalts des Prozesses zu entscheiden (St/J/Leipold Rz 76). Überraschend ist es für die in der Vorinstanz siegreiche Partei, wenn das Rechtsmittelgericht von der Rechtsansicht der Vorinstanz ohne Ankündigung abweicht (BGH ZfBR 09, 241) oder das Gericht von seinem eigenen rechtlichen Hinweis im Urteil abweicht (BGH NJW 02, 3317, 3320; 14, 2796; ZIP 20, 583). Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet es aber nicht, dass das Rechtsmittelgericht auf seine vom erstinstanzlichen Gericht abweichende Auffassung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage hinweist, wenn die angefochtene Entscheidung in diesem Punkt vom Rechtsmittelführer mit vertretbaren Ausführungen angegriffen wird (BVerwG DÖV 08, 1005 [BVerwG 24.07.2008 - BVerwG 6 PB 18.08]). An dem Überraschungsmoment fehlt es auch, wenn die Partei in ihrem schriftsätzlichen oder mündlichen Vorbringen auf den Punkt eingegangen ist. Wenn eine Partei näheren Vortrag zu einem Punkt angekündigt hat, der dann unterblieben ist, ist ersichtlich, dass die Partei den Punkt nicht für unerheblich hält. Ein Hinweis nach Abs 2 ist daher nicht erforderlich (BGH MDR 91, 240, 241), allerdings kann ein Hinweis nach Abs 1 erforderlich sein (Musielak/Voit/Stadler Rz 22). Ein Hinweis des Gegners auf einen bestimmten Punkt lässt nur dann die Hinweispflicht des Gerichts entfallen, wenn durch den gegnerischen Hinweis der Punkt zum Gegenstand der Erörterung wurde. Wenn die Partei den gegnerischen Hinweis für unbeachtlich hält, was sich daraus ergibt, dass sie nicht auf ihn eingeht, bleibt die gerichtliche Hinweispflicht bestehen. Das Verbot der Überraschungsentscheidung gilt ohne Einschränkung auch im Anwaltsprozess (BGH NJW-RR 93, 569 [BGH 02.02.1993 - XI ZR 58/92]). Allerdings genügt es bspw, wenn das Berufungsgericht den Wert des Streitgegenstandes für die Berufungsinstanz auf 500 EUR festgesetzt hat, denn dadurch ist für den anwaltlich vertretenen Beklagten erkennbar, dass die Berufung nach Ansicht des Gerichts gem § 511 II Nr 1 unzulässig war, so dass der Anwalt bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt davon ausgehen musste, zu dem notwendigen Kostenaufwand nicht hinreichend vorgetragen zu haben (BGH 12.11.08 – XII ZB 92/08). Gegenüber der nicht-vertretenen, rechtsunkundigen Partei hat sich der Richter in besonderer Weise darum zu bemühen, dass die Partei die rechtlichen Aspekte des Streits versteht und die rechtliche Beurteilung des Gerichts nachvollziehen kann (St/J/Kern Rz 81).

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