Gesetzestext

 

Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und

a) jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt hat

oder

b)

das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und sich das Kind in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, sofern eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

i) Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird;
ii) ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Antrag auf Rückgabe wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziffer i) genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt;
iii) ein Verfahren vor dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde gemäß Artikel 11 Abs. 7 abgeschlossen;
iv) von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird.

A. Ziele und Regelungsmechanismus des HKÜ und sein Verhältnis zur Brüssel IIa-Verordnung.

 

Rn 1

Das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung v 25.10.80 (HKÜ) gilt zurzeit in mehr als 90 Staaten der Welt (aktuelle Statustabelle abrufbar unter www.hcch.net), in Deutschland seit dem 1.12.90 im Range eines Bundesgesetzes. Mit Hilfe dieses Abkommens sollen widerrechtliche Kindesentführungen rückgängig gemacht werden. Denn bei Trennung oder Scheidung greifen Elternteile verstärkt zur Selbsthilfe, indem sie das Land des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts mit dem gemeinsamen Kind verlassen, ohne zuvor eine Sorgerechtsentscheidung des dortigen Gerichts zu beantragen oder abzuwarten. Sie kehren oft in der Erwartung einer für sie vorteilhaften Sorgerechtsregelung in ihren Heimatstaat zurück. Dem zurückgelassenen Elternteil ist somit eine Teilhabe am Sorgerechtsverfahren zunächst verwehrt. Um derartige Benachteiligungen zu verhindern, sieht das HKÜ primär die Wiederherstellung des status quo ante vor. Widerrechtlich (vgl dazu BGH FamRZ 10, 1060 mit Anm Völker) von einem Vertragsstaat (Ursprungsstaat) in einen anderen Vertragsstaat verbrachte oder dort zurückgehaltene Kinder unter 16 Jahren sind daher sofort in ihren Ursprungsstaat (also den Staat ihres vormaligen gewöhnlichen Aufenthalts) zurückzuführen. Dabei geht das HKÜ davon aus, dass dem Kindeswohl am ehesten durch eine Sorgerechtsentscheidung der international zuständigen Gerichte desjenigen Staates entsprochen wird, in dem das Kind bis zu seiner Entführung gelebt hat (vgl aber auch Brandbg FamRZ 20, 1726 m krit Anm Hüßtege FamRZ 20, 1839). Demzufolge hat das HKÜ-Verfahren die Kindesrückführung zum Gegenstand und Ziel, nicht etwa die Beurteilung des optimalen Sorgerechtsverhältnisses und erst recht nicht die Regelung des Sorgerechts (vgl auch Art 16, 17 HKÜ).

Dem entspricht, dass ein formal begründetes Rückführungsbegehren des zurückgelassenen Elternteils nicht etwa schon dann zurückgewiesen werden kann, wenn dem Kindeswohl mit einem Verbleib des Kindes in Deutschland besser gedient wäre, sondern nur, wenn – praktisch die am häufigsten, wenn auch in aller Regel erfolglos eingewandte Ausnahme – die Rückgabe des Kindes mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens verbunden ist oder es auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt (Art 13 lit b HKÜ; eingehend zur Kasuistik Erb-Klünemann FamRB 18, 327). Die Hinnahme der Entführung ist daher nur aufgrund ungewöhnlich schwerwiegender und konkret drohender Beeinträchtigungen des Kindeswohls gerechtfertigt, was – aus deutscher Sicht – verfassungsrechtlich ebenso unbedenklich ist wie die restriktive Auslegung dieser Ausnahmeklausel durch die Gerichte (vgl dazu BVerfGE 99, 145, 156 ff; BVerfG FamRZ 96, 1267). Ein HKÜ-Verfahren ist besonders eilbedürftig, weswegen Art 11 II HKÜ vorsieht, dass der Antragsteller eine Darstellung verlangen kann, sofern eine erstinstanzliche Entscheidung nicht binnen sechs Wochen ergangen ist (lesenswert bzgl der ärgerlichen Folgen, die ein zu lange währendes Vollstreckungsverfahren auf die Durchsetzung einer Rückführungsanordnung haben kann, EGMR v 6.7.10 – Beschwerde Nr. 41615/07 – [Neulinger und Shuruk/Schweiz]; die knappe 9 zu 8 Entscheidung des EGMR v 26.11.13 – Beschwerde Nr. 27853/09 – [X./Litauen] setzt den in der Neulinger-Entscheidu...

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