Leitsatz (amtlich)

›Bei Geschwindigkeitsmessungen mit standardisierten Messverfahren sind Zweifel am Messergebnis (mit der Folge eines höheren Toleranzabzugs) nur bei konkreten Anhaltspunkten für eine fehlerhafte Messung angebracht; abstrakt-theoretische Möglichkeiten eines Messfehlers genügen nicht.‹

 

Verfahrensgang

StA Kaiserslautern (Aktenzeichen 6270 Js 9990/99)

 

Gründe

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 200,-- DM verurteilt. Im Bußgeldbescheid war ursprünglich eine Geldbuße von 240,-- DM und ein Fahrverbot von 1 Monat vorgesehen. Mit der von der Staatsanwaltschaft erhobenen Rechtsbeschwerde wird die Verletzung materiellen Rechts gerügt.

Das gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG zulässige Rechtsmittel führt zu einem vorläufigen Erfolg.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Betroffene am 18. April 1998 mit einem Motorrad die Bundesautobahn A 6 in Richtung Saarbrücken. Bei km 618,5 war die zulässige Höchstgeschwindigkeit durch Verkehrszeichen 274 auf 80 km/h beschränkt. Der Betroffene fuhr dort 120 km/h. Zur Feststellung dieser Geschwindigkeit gelangte das Amtsgericht, indem es von der durch eine Nachfahrmessung mittels eines Police-Pilot-Messgerätes "ProViDa" ermittelten Geschwindigkeit des Betroffenen einen Toleranzabzug von 6 % vornahm.

Dazu sah es sich aufgrund eines Sachverständigengutachtens veranlaßt, nach dem bei Messwerten im Geschwindigkeitsbereich über 100 km/h bei dem Messgerät "ProViDa" ein Toleranzabzug von 3 % angezeigt sei. Durch die bei einer Nachfahrmessung gegebene Kombination mit einem Messfahrzeug sei ein Toleranzabzug von 5 % vorzunehmen, mit dem auch bereits leichte Unterschiede des Reifenprofils ausgeglichen seien. Nur dann, wenn mit extrem falschem Luftdruck gefahren werde, sei dieser Toleranzabzug nicht ausreichend. In diesem Fall seien 6 bis 7 % der gemessenen Geschwindigkeit abzuziehen.

Im Rahmen der Beweiswürdigung hat das Amtsgericht ausgeführt, dass zwar der als Messfahrzeug benutzte Dienstwagen einer ständigen Bontrolle durch eine Fachwerkstatt und einen technischen Beamten der Polizeiautobahnstation unterliege, dass daraus aber nicht geschlossen werden könne, der Reifendruck sei bei der Messfahrt am 18. April 1998 ordnungsgemäß gewesen. Auch wenn es bei ordnungsgemäßen Reifen und Ventilen nicht zu schnellen Schwankungen des Reifendrucks komme, sei erfahrungsgemäß nicht auszuschließen, dass (wenn auch recht selten) ein Reifen durch Beschädigungen an Bürgersteigkanten oder mit spitzen Gegenständen Luft verliere. Dies müsse von den Fahrzeugbenutzern nicht notwendig bemerkt werden. Da etwas derartiges auch im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen werden könne, sei nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" ein erhöhter Toleranzabzug vorzunehmen.

Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Abgesehen davon, dass das Urteil Messstrecke, Abstandsverhältnisse und Geschwindigkeit des nachfahrenden Fahrzeugs nicht mitteilt (vgl. hierzu OLG Braunschweig, NZV 1995, 367; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Auflage, Rn. 56, 62 zu § 3 StVO), werden die Anforderungen an die tatrichterliche Überzeugungsbildung überspannt. Voraussetzung dafür, dass sich der Tatrichter vom Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts überzeugt, ist nicht eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und damit von niemandem anzweifelbare Gewißheit. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen läßt. Dabei haben solche Zweifel außer Betracht zu bleiben, die realer Anknüpfungspunkte entbehren und sich lediglich auf die Annahme einer bloß gedanklichen, abstrakt-theoretischen Möglichkeit gründen (BGH v. 24.01.1989 - BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 5; BGH v. 11.06.1987 - BGH NStE Nr. 25 zu § 261 StPO).

So liegt es hier. Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils ergeben sich keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte für einen "extrem falschen Reifendruck" des Messfahrzeugs zum Zeitpunkt der Geschwindigkeitsmessung oder auch nur für irgendwelche vorausgegangenen Vorfälle, die einen solchen hätten bewirken können.

Für das Amtsgericht bestand deshalb keine Veranlassung - auch nicht nach dem Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" -, einen 5 % übersteigenden Toleranzabzug (vgl. OLG Celle, NZV 1990, 39) vorzunehmen. Wird - wie hier - ein anerkanntes und weitgehend standardisiertes Geschwindigkeitsmessverfahren angewandt, so ist der Tatrichter vielmehr nur dann gehalten, die Zuverlässigkeit der Messung zu prüfen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler bestehen (BGH NZV 1993, 485, 486; BGH NZV 1998, 120, 122). Aus dem angefochtenen Urteil sind solche konkreten Besonderheiten nicht ersichtlich.

Aufgrund des dargelegten sachlich-rechtlichen Fehlers war das Urteil aufzuheben.

Der Senat kann nicht gemäß § 79 Abs. 6 OWiG in der Sache selbst entscheiden. Zum einen sind weitere Feststellungen über Besonderheiten des Messvorgangs, die ausnahmsweise ...

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