Leitsatz (amtlich)

Die Verweigerung der Herausgabe nicht bei den Akten befindlicher Unterlagen und Daten berührt den Grundsatz eines fairen Verfahrens nur dann, wenn deren Relevanz für die Verteidigung des Betroffenen nicht oder jedenfalls nicht sicher abzusprechen ist. Dies ist bei den Daten "der gesammten Messreihe" jedenfalls derzeit nicht der Fall (nachfolgend zu dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 30.03.2022 - 4 StR 181/21).

 

Verfahrensgang

AG Kaiserslautern (Entscheidung vom 25.01.2021; Aktenzeichen 4 OWi 6070 Js 19749/20)

 

Tenor

  1. Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Kaiserslautern vom 25. Januar 2021 wird als unbegründet verworfen.
  2. Die Beschwerdeführerin trägt die Kosten ihres Rechtsmittels.
 

Gründe

Das Amtsgericht Kaiserslautern hat die Betroffene auf deren in zulässiger Weise eingelegten Einspruch gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidiums Rheinpfalz - Zentrale Bußgeldstelle (Az.: ...) am 25. Januar 2021 wegen fahrlässigen Überschreitens der erlaubten Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h zu einer Geldbuße von 120 Euro verurteilt. Gegen dieses Urteil, das dem Verteidiger am 4. Februar 2021 zugestellt worden ist, hat dieser am 4. März 2021 "Rechtsbeschwerde" eingelegt, das Rechtsmittel mit Anträgen versehen und mit der Rüge der Verletzung des Gebots fairen Verfahrens sowie der allgemein erhobenen Sachrüge begründet.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Antragsschrift vom 17. März 2021 beantragt, das Rechtsmittel als Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde auszulegen und diesen als unbegründet zu verwerfen.

Der Einzelrichter des Senats hat mit Beschluss vom 29. April 2021 die Rechtsbeschwerde zugelassen und die Sache gem. § 80 Abs. 3 S. 1, Abs. 1 OWiG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

Der Senat hat mit Beschluss vom 4. Mai 2021 (NZV 2022, 27 mit Anm. Merz) dem Bundesgerichtshof gem. §§ 121 GVG 79 Abs. 3 S. 1 OWiG folgende Rechtsfrage vorgelegt:

"Liegt in der Verweigerung der Einsichtnahme in dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Daten ("gesamte Messreihe") auch dann ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, wenn eine Relevanz der betreffenden Daten für die Beurteilung der Zuverlässigkeit des verfahrensgegenständlichen Messvorgangs und damit für die Verteidigung des Betroffenen nicht erkennbar ist?"

Mit Beschluss vom 30. März 2022 hat der Bundesgerichtshof (4 StR 181/21, juris) die Sache an das Pfälzische Oberlandesgericht zurückgegeben, weil die Vorlegungsvoraussetzung einer Divergenz zu der Entscheidung des Thüringer Oberlandesgerichts vom 17. März 2021 (1 OLG 331 SsBs 23/20, VRS 140, 33) nicht vorlagen.

Die Rechtsbeschwerde war nunmehr entsprechend dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft als unbegründet zu verwerfen.

I.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr die Betroffene mit einem PKW am 23. April 2020 um 10:18 Uhr in der Gemarkung Kaiserslautern die B 37 in Fahrtrichtung Kaiserslautern. In Höhe der Zufahrt "Ruheforst" wurde die Geschwindigkeit des Fahrzeugs mit dem Messgerät ES 3.0 der Firma ESO mit 109/ km/h gemessen. Nach Abzug einer Toleranz von 4 km/h hatte die Betroffene damit die an der Messörtlichkeit durch Verkehrsschilder auf 70 km/h beschränkte Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h um 35 km/h überschritten.

II.

1.

Die auf die allgemein erhobene Sachrüge veranlasste umfassende materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Betroffenen ergeben.

2.

Die mit der Behauptung, durch die Versagung des Zugangs zu nicht bei den Akten befindlichen Messdaten ("gesamte Messreihe") habe das Amtsgericht das Gebot fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK) verletzt bzw. die Betroffene in ihrer Verteidigung unzulässig beschränkt, begründete Verfahrensrüge dringt ebenfalls nicht durch.

a) Ihr liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:

Der Verteidiger hat nach der am 10. Juli 2020 bewirkten Zustellung des Bußgeldbescheides an die Betroffene Einspruch eingelegt und mit Schriftsatz vom 16. Juli 2020 bei der Verwaltungsbehörde "komplette Akteneinsicht" beantragt. Ferner hat er um Einsicht in "die Falldatensätze der gesamten tatgegenständlichen Messreihe mit Rohmessdaten/Einzelmesswerten sowie Statistikdatei und Caselist" sowie weitere Urkunden gebeten (zum Begriff der Rohmessdaten s. Thiele, DAR 2020, 614, 615; Burhoff/Niehaus in Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., Rn. 236). Zur Begründung hat er ausgeführt, aus einer Analyse der Messreihe könne sich ergeben, dass andere Messungen fehlerhaft sind oder technisch nicht nachvollzogen werden können, was Rückschlüsse auf die tatgegenständliche Messung zulasse. Dies gelte insbesondere für die Aspekte atypischer Fotopositionen, einer Divergenz zwischen der Anzahl der erfassten Messungen und der generierten Falldatensätze, der Annulierungsrate des Geräts, möglicher Bewegungen des Messgeräts währen...

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