Leitsatz (amtlich)

In der Kündigung einer Lebens- oder Rentenversicherung mit widerruflichem Bezugsrecht durch den Versicherungsnehmer liegt, wenn keine gegenläufigen Anhaltspunkte erkennbar sind und der Versicherungsnehmer die Auszahlung der Versicherungsleistung an sich selbst begehrt, regelmäßig auch der Widerruf bestehender Bezugsrechte.

 

Verfahrensgang

LG Stuttgart (Aktenzeichen 2 O 76/20)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 22.03.2023; Aktenzeichen IV ZR 95/22)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 22.04.2021, Az. 2 O 76/20, unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 954,05 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz daraus seit dem 26.11.2019 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung des jeweiligen Vollstreckungsgläubigers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

4. Die Revision wird für die Klägerin zugelassen.

Streitwert des Berufungsverfahrens: 16.044,37 EUR.

 

Gründe

I. Die Klägerin nimmt die Beklagte als Alleinerbin der verstorbenen Versicherungsnehmerin (nachfolgend: VN) auf Rückzahlung eines am Tag vor deren Tod an die VN ausgekehrten Rückkaufswerts einer Rentenversicherung in Anspruch.

Am 09.05.2012 nahm die VN bei der Klägerin eine Rentenversicherung (Anl. K 1, Bl. 16 d.A.), welche für den Fall ihres Todes ihren Lebensgefährten (nachfolgend: Streitverkündeter) als widerruflich Bezugsberechtigten vorsah (Anl. K 2, Bl. 18ff, 22 d.A.; § 12 Nr. 1 Allgemeine Versicherungsbedingungen für die sofort beginnende R+V-Rentenversicherung, nachfolgend: AVB). Mit Schreiben vom 18.02.2019 (Anl. K 3, Bl. 41 d.A.) kündigte die VN den Versicherungsvertrag ordentlich zum 01.04.2019 und forderte die Klägerin dazu auf, ihr "den Restbetrag" auf ihr Girokonto zu erstatten. Bereits am 26.03.2019 kehrte die Klägerin einen Betrag in Höhe der Klageforderung (16.044,37 EUR) an die VN aus. Der Betrag wurde dem Konto der VN am Folgetag gutgeschrieben. Einen Tag später, am 28.03.2019, verstarb die VN und wurde von der Beklagten, ihrer Tochter, beerbt (Anl. B 1).

Mit Anwaltsschreiben vom 13.09.2019 zeigte die Beklagte der Klägerin das Versterben der VN an und teilte mit, dass sämtliche zu Gunsten des Streitverkündeten bestehenden Vollmachten widerrufen worden seien; zugleich würden etwa zu seinen Gunsten bei der Klägerin bestehende Bezugsrechte widerrufen. Mit Schreiben vom 01.10.2020 ließ die Klägerin, die vom Tod der VN zuvor nichts wusste, mitteilen, dass ein Widerruf des Bezugsrechts wegen des Eintritts des Versicherungsfalls nicht mehr möglich sei. Die Klägerin werde den Widerruf aber insofern achten, als sie dem Streitverkündeten kein Angebot auf Abschluss eines Schenkungsvertrags mehr überbringen werde.

Die Klägerin hat die Beklagte aus ungerechtfertigter Bereicherung in Anspruch genommen. Da der Kündigung vom 18.02.2019 kein Widerruf des Bezugsrechts entnommen werden könne, habe dieses bis zum Ende des Versicherungsvertrags zum 01.04.2019 fortbestanden. Mit Eintritt des Versicherungsfalls habe somit der Streitverkündete den Anspruch auf die Todesfallleistung erworben, welche indessen mit 15.090,32 EUR geringer sei als der ausbezahlte Rückkaufswert. Ob er die Todesfallleistung auch nach dem Valutaverhältnis zu beanspruchen habe, habe die Klägerin nicht zu prüfen. Die Zahlung an die VN sei daher ohne Rechtsgrund erfolgt.

Wegen des weiteren Parteivorbringens und der in erster Instanz gestellten Anträge wird auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.

Das Landgericht hat der Klage mit Urteil vom 22.04.2021, auf welches wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, stattgegeben. Unabhängig von der Frage des Bezugsrechts sei die Beklagte in Höhe von 954,02 EUR ungerechtfertigt bereichert, weil die Todesfallleistung hinter dem ausbezahlten Rückkaufswert zurückbleibe. Die Todesfallleistung stehe der Beklagten aber ebenfalls nicht zu, weil sich der Kündigung ein Widerruf des Bezugsrechts nicht entnehmen lasse. Der Versicherer könne dieser nur entnehmen, dass die Voraussetzungen für die Auszahlung des Rückkaufswerts geschaffen werden sollten. Der Hintergrund der Kündigung sei für den Versicherer nicht erkennbar. Einen generellen Erfahrungssatz, dass mit der Kündigung auch das Bezugsrecht widerrufen sein solle, gebe es nicht. Dies könne nur angenommen werden, wenn für den Versicherer - im Streitfall fehlende - Anhaltspunkte erkennbar würden, dass auch die Todesfallabsicherung des Bezugsberechtigten rückgängig gemacht werden solle. Ob das Valutaverhältnis mangelhaft sei, könne dahinstehen, da dies für den Zahlungsanspru...

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