Leitsatz (amtlich)

1. Die Besorgnis der Befangenheit ist begründet, wenn die Ehegattin oder feste Partnerin des abgelehnten Richters bei einer Partei des Rechtsstreits beschäftigt ist und bei vernünftiger Betrachtungsweise aus Sicht des ablehnenden Klägers die Befürchtung besteht, dass sie sich aufgrund ihrer gehobenen beruflichen Tätigkeit in besonderem Maße mit den Interessen und Zielen des Unternehmens identifiziert, deshalb bei Rechtsstreitigkeiten von herausragender Bedeutung für das Unternehmen dessen Position einnimmt oder sich mit diesem solidarisiert, dies auch ihrem Ehegatten - dem abgelehnten Richter - vermittelt und aufgrund der besonderen Nähebeziehung des Paares dessen Meinungsbildung zugunsten der Partei bewusst oder unbewusst beeinflusst, sodass die Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Richters nicht mehr gewährleistet ist.

2. Ist oder war die Ehefrau bzw. feste Partnerin eines Richters bei einer Partei beschäftigt, hat der Richter dies den Parteien des Rechtsstreits vor oder spätestens bei der ersten richterlichen Handlung anzuzeigen.

 

Normenkette

ZPO §§ 42, 48

 

Verfahrensgang

LG Stuttgart (Beschluss vom 08.06.2022; Aktenzeichen 53 O 264/21)

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 08.06.2022 wie folgt abgeändert:

Die Ablehnungsgesuche der Klägerin gegen den Vorsitzenden Richter am Landgericht X und gegen den Richter am Landgericht Y sind begründet.

 

Gründe

Die sofortige Beschwerde der Klägerin richtet sich gegen die Zurückweisung eines Befangenheitsgesuchs.

A I. Wegen des Sachverhalts wird auf die Feststellungen im angefochtenen Beschluss des Landgerichts verwiesen. Zusammenfassend: Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche wegen der Beteiligung der Beklagten am sog. Lkw-Kartell. Beim Landgericht Stuttgart fallen solche Streitigkeiten u.a. in die Zuständigkeit der 53. Zivilkammer.

Die Klägerin lehnt den Vorsitzenden der 53. Zivilkammer, Vorsitzenden Richter am Landgericht X, u.a. mit der Begründung ab, dass dessen Ehefrau von Mai 2011 bis Oktober 2021 bei der Beklagten als Manager, später als Senior Manager angestellt und zum Oktober 2021 zur D. in eine Führungsposition im Bereich Compliance gewechselt sei. Die D. sei gegenüber der Beklagten im Innenverhältnis zur Freistellung von den streitgegenständlichen Schadensersatzansprüchen verpflichtet. Der abgelehnte Richter habe zudem gegen seine Pflicht zur rechtzeitigen Offenbarung dieser Umstände verstoßen. In seiner dienstlichen Äußerung hat der abgelehnte Richter die berufliche Tätigkeit seiner Ehefrau bestätigt.

Das Befangenheitsgesuch gegen den Vorsitzenden Richter veranlasste den Richter am Landgericht Y, der ebenfalls der 53. Zivilkammer angehört, zu dem Hinweis, dass seine Partnerin bis 30. November 2021 im Personalbereich der Beklagten tätig war und im Anschluss daran im Personalbereich der D. Die Klägerin sieht hierin einen Grund zur Besorgnis der Befangenheit und lehnt auch den Richter am Landgericht Y ab.

II. Das Landgericht hat die Ablehnungsgesuche zurückgewiesen.

1. Im Hinblick auf das Ablehnungsgesuch gegen Richter am Landgericht Y führt das Landgericht aus, in Anbetracht der Größe des Unternehmens der Beklagten mit rund 300.000 Mitarbeitern sei das Beschäftigungsverhältnis der Partnerin des Richters völlig unbedenklich. Sie sei weder in den Prozess noch in die zugrundeliegende Materie involviert. Umstände, die auf einen persönlichen Kontakt zu einem mit dem Sachverhalt befassten Mitarbeiter schließen ließen, seien weder dargetan noch ersichtlich. Die Partnerin des abgelehnten Richters nehme auch keine unternehmensbezogene Führungsposition ein. Ein Unterliegen der Beklagten im hiesigen und in sämtlichen bei der Kammer anhängigen Parallelverfahren sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht geeignet, die unternehmerische oder wirtschaftliche Existenz der Beklagten bzw. der D. zu gefährden. Eine Besorgnis der Befangenheit sei auch nicht aus der zunächst unterbliebenen Offenlegung der Verhältnisse herzuleiten. Seine Einschätzung, ein seine Unvoreingenommenheit infrage stellender Sachverhalt komme nicht in Betracht, sei nachvollziehbar und rechtlich vertretbar.

2. Im Hinblick auf das Ablehnungsgesuch gegen Vorsitzenden Richter am Landgericht X führt das Landgericht aus, aus der Tätigkeit der Ehefrau des abgelehnten Richters ergebe sich auf der Grundlage der vorstehenden Ausführungen ebenfalls kein Anlass, an dessen Unvoreingenommenheit und objektiver Einstellung zu zweifeln. Sie sei bereits vor der Übertragung der Zuständigkeit für Kartellsachen auf die 53. Zivilkammer zu der nicht unmittelbar am Verfahren beteiligten D. gewechselt. Es fehle sowohl an einer unternehmensbezogenen Führungsposition als auch an einer Befassung mit der streitgegenständlichen Materie. Eine Existenzgefährdung der D. sei nicht ersichtlich. Der abgelehnte Richter habe auch nicht seine Anzeigepflicht gegenüber den Parteien verletzt.

B Die gegen den Zurückweisungsbeschluss des Landgerichts gericht...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge