Leitsatz (amtlich)

1. Ist nach den Umständen des Einzelfalles vom Vorliegen der Eröffnungsreife bereits vor Erlass des Eröffnungsbeschlusses auszugehen, so ist bei der Prüfung, ob das Beschleunigungsgebot in Haftsachen beachtet wurde, auf den Zeitpunkt des Eintritts der Eröffnungsreife und nicht auf den Zeitpunkt des tatsächlichen Erlasses des Eröffnungsbeschlusses abzustellen.

2. Das Führen von Verständigungsvorgesprächen rechtfertigt es bei Eintritt der Eröffnungsreife in Haftsachen regelmäßig nicht, den Eröffnungsbeschluss erst nach Beendigung der Vorgespräche zu erlassen. Dem Führen derartiger Gespräche kann bei der Terminierung Rechnung getragen werden, wobei auch hier im Regelfall zu beachten ist, dass die Hauptverhandlung - sofern nicht sonst besondere Umstände vorliegen - spätestens drei Monate nach Erlass des Eröffnungsbeschlusses bzw. nach Eintritt der Eröffnungsreife zu beginnen hat.

 

Verfahrensgang

LG Nürnberg-Fürth (Entscheidung vom 16.10.2008; Aktenzeichen 13 KLs 801 Js 27592/07)

 

Tenor

Die Haftbefehle des Amtsgerichts Nürnberg vom 12.6.2008 mit den Aktenzeichen 58 Gs 8957/08, 58 Gs 8945/08 , 58 Gs 8948/08, 58 Gs 8966/08 und 58 Gs 8951/08 werden aufgehoben.

 

Gründe

Die Angeklagten D, G, G, G und G befinden sich seit dem 18.12.2007 zuletzt aufgrund der im Tenor bezeichneten Haftbefehle ununterbrochen in Untersuchungshaft, ohne dass bisher ein Urteil gegen sie ergangen ist.

Der Senat hat im besonderen Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO bereits zweimal die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet (Beschlüsse vom 3.7.2008 und vom 16.10.2008).

Die an sich gerechtfertigten Haftbefehle sind nunmehr aufzuheben, da das Verfahren - obwohl die polizeilichen Ermittlungen am 5.8.2008 und die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft am 13.8.2008 abgeschlossen wurden und die am 13.8.2008 gefertigte Anklage am 21.8.2008 erhoben wurde - nicht die in Haftsachen gebotene, auf den Freiheitsanspruch gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 2 MRK beruhende Beschleunigung erfahren hat. Mit dem verfassungsrechtlich zu beachtenden Beschleunigungsgebot ist es unvereinbar, dass die 13. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth - entgegen der Erwartung des Senats im Beschluss vom 16.10.2008 - die Durchführung der Hauptverhandlung in dieser Sache immer noch nicht begonnen, sondern erst für den Zeitraum ab 20.3. 2009 und damit erst 7 Monate nach Eingang der Anklage vorgesehen hat.

1. a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei der (Anordnung und) Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig Verurteilten als Korrektiv entgegen gehalten werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt insoweit, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (vgl. BVerfG StV 2008, 421 m.w.N.). Die Schwere der Tat und die im Raum stehende Straferwartung sind dabei nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit § 121 StPO ohne jede Bedeutung (BVerfG StV 2007, 369).

Dem trägt die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor dem Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO lässt also nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45, 50;  36, 264, 271). Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils ist dabei nur in besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen (BVerfG StV 2008, 198). Kommt es zu sachlich nicht gerechtfertigten und vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte nicht zu vertreten hat, so steht bereits die Nichtbeachtung des Beschleunigungsgebotes regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. BVerfG NJW 2006, 1336 m.w.N.).

b) Weiter ist nach der inzwischen in einer Vielzahl von Entscheidungen herausgearbeiteten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte dem Beschleunigungsgebot - sofern nicht besondere Umstände ...

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