Leitsatz (amtlich)

1. Nach § 160 Abs. 1 Satz 1 FamFG soll das Gericht in Verfahren, die die Person des Kindes betreffen, die Eltern persönlich anhören; nach § 160 Abs. 3 FamFG darf nur aus schwerwiegenden Gründen von einer Anhörung abgesehen werden. Überdies muss nach § 160 Abs. 4 FamFG die Anhörung unverzüglich nachgeholt werden, sofern sie wegen Gefahr in Verzug unterblieben ist.(Rz. 11)

2. Bei gemeinsamer elterlicher Sorge und Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrecht durch den Kindesvater verstößt eine ohne Anhörung der Kindesmutter (und des Kindesvaters) ergangene Endentscheidung über die vom Vater beantragte Übertragung der Entscheidungsbefugnis über die stationäre Aufnahme des Kindes zum Zwecke einer Klärung des Verdachts einer Aufmerksamkeitsstörung in Gestalt des ADS/ADHS-Syndroms gegen die Pflicht zur mündlichen Anhörung der Eltern und ist somit in hohem Maße verfahrensfehlerhaft.(Rz. 12)

 

Normenkette

FamFG § 160 Abs. 3, 1 S. 1, Abs. 4; GG Art. 103 Abs. 1; BGB § 1628 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

AG Wernigerode (Beschluss vom 26.05.2011; Aktenzeichen 11 F 338/11 SO)

 

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Kindesmutter wird festgestellt, dass der Beschluss des AG Wernigerode vom 26.5.2011 - 11 F 338/11 SO, die Kindesmutter in ihren Rechten verletzt hat, und die Kostenentscheidung des Beschlusses dahin abgeändert, dass die Kosten des Verfahrens in erster Instanz gegeneinander aufgehoben werden.

2. Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben, die außergerichtlichen Kosten tragen die Beteiligten jeweils selbst nach einem Verfahrenswert von 500,- EUR.

3. Beiden Elternteilen wird Verfahrenskostenhilfe für die Beschwerdeinstanz ohne Zahlungsverpflichtung unter Beiordnung von Rechtsanwalt G. bzw. Rechtsanwalt J. zu ihrer Vertretung bewilligt.

 

Gründe

I. Die Beteiligten sind die geschiedenen Eltern des Kindes A., geboren am 26.10.2002, das im väterlichen Haushalt lebt.

Das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die gemeinsame Tochter steht dem Antragsteller allein zu, im Übrigen üben die Beteiligten die elterliche Sorge gemeinsam aus.

Der Kindesvater hat, ausgehend von der Vermutung, dass A. an ADS/ADHS (= Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom/Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) leiden könne, mit Schriftsatz vom 16.5.2011 beantragt, ihm die Entscheidungsbefugnis über die stationäre Aufnahme des Kindes im Krankenhaus zum Zwecke einer entsprechenden Untersuchung zu übertragen.

Das AG Wernigerode hat mit Beschluss vom 26.5.2011 (Leseabschrift Bl. 11 - 12 d.A.) ohne mündliche Anhörung der Beteiligten dem Antrag gem. § 1628 Abs. 1 Satz 1 BGB entsprochen, da es für das Kind von erheblicher Bedeutung sei, ob es unter einer Aufmerksamkeitsstörung leide. Da die Kindesmutter in ihrer Stellungnahme vom 24.5.2011 (Bl. 8 d.A.) sich nicht eindeutig geäußert habe, ob sie mit der Behandlung einverstanden sei, müsse davon ausgegangen werden, dass zu diesem Punkt eine Meinungsverschiedenheit der Eltern bestehe.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Kindesmutter vom 23.6.2011 (Bl. 25 - 28 d.A.), die insbesondere rügt, das AG habe, obschon kein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt worden sei und auch sonst keine besondere Dringlichkeit der Angelegenheit bestanden habe, ohne mündliche Anhörung entschieden und ihr nur eine Frist zur Stellungnahme von drei Tagen eingeräumt. Dabei sei zu berücksichtigen, dass sie zum damaligen Zeitpunkt unmittelbar vor der Niederkunft gestanden habe, was der Antragsteller gewusst habe und auch dem Gericht durch einen seinerzeit parallel eingereichten Schriftsatz des Antragstellers in einem weiteren Verfahren bekannt gewesen sei. Zudem hätten, der Billigkeit entsprechend, die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufgehoben werden müssen.

Nachdem A. mittlerweile in der Zeit vom 08.8. bis 11.8.2011 stationär untersucht worden ist, richtet sich der Antrag der Kindesmutter hilfsweise darauf, festzustellen, dass der Beschluss des AG Wernigerode sie in ihren Rechten verletzt habe, weil sie nicht ausreichend an dem Verfahren beteiligt worden sei und seinerzeit keine Eilbedürftigkeit vorgelegen habe.

II. Die zulässigerweise eingelegte Beschwerde ist, nachdem sich die angefochtene Entscheidung durch die stationäre Untersuchung des Kindes in der Zeit vom 08. bis 11.8.2011 in der Hauptsache erledigt hat und damit ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Korrektur der Entscheidung in zweiter Instanz entfallen ist, gem. § 62 Abs. 1 FamFG noch insoweit, entsprechend dem hilfsweise gestellten Antrag, für zulässig zu erachten, als die Kindesmutter aufgrund eines gravierenden Verfahrensdefizits im vorliegenden Fall ein berechtigtes Interesse daran hat, festzustellen, dass die Entscheidung des ersten Rechtszuges sie in ihren Rechten verletzt hat (1).

Desgleichen bedingt diese Feststellung eine Korrektur der erstinstanzlich zu Lasten der Kindesmutter getroffenen Kostenentscheidung (2).

1. Der gem. § 62 Abs. 1 FamFG trotz Erledigung der Hauptsache noch zulässige Feststellungsantrag der Kindesmutter ist auch sach...

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