Leitsatz (amtlich)

1. Ein nicht ausgefülltes und nicht unterschriebenes Aufklärungsformular in der Krankenakte bildet ein Indiz nicht für, sondern gegen die Durchführung eines Aufklärungsgesprächs.

2. Wenn vor dem ärztlichen Eingriff überhaupt keine Aufklärung erfolgt, genügt für den Beginn der Verjährung eines auf eine Aufklärungspflichtverletzung gestützten Anspruchs die Kenntnis vom Eintritt schwerwiegender Komplikationen. Nicht erforderlich ist das Wissen, dass sich ein typisches Risiko des Eingriffs verwirklicht hat.

 

Verfahrensgang

LG München I (Urteil vom 25.06.2003; Aktenzeichen 9 O 12958/93)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin und die Anschlussberufung des Beklagten wird das Urteil des LG München I v. 25.6.2003 aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtlichen materiellen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die am 10.7.1984 im Klinikum G. durchgeführte extrakorporale Stoßwellen-Lithotripsie und die daran anschließenden stationären Behandlungen im Klinikum G. in den Jahren 1984 und 1985 entstanden ist und künftig noch entstehen wird, soweit die Ansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin 5/13 und der Beklagte 8/13.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Parteien können die Vollstreckung durch den jeweiligen Gegner durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, falls dieser nicht zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die 1936 geborene, gesetzlich bei der AOK versicherte Klägerin nimmt den Beklagten als Träger des Klinikums G. der Universität M. wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung im Jahr 1984 auf Schadenersatz in Anspruch.

Das Klinikum G. war 1984 weltweit das einzige Krankenhaus, das Nierensteinpatienten eine Behandlung mit der extrakorporalen Stoßwellen-Lithotripsie (ESWL) anbieten konnte, bei der der Nierenstein berührungsfrei durch von einem Gerät ausgesandte, gebündelte Stoßwellen zertrümmert wird. In den Folgejahren verbreitete sich diese Methode weltweit.

Im Jahr 1983 wurde bei der Klägerin nach einer Kolik in der Urologischen Abteilung des Kreiskrankenhauses A. mit einer Schlinge ein in den Harnleiter eingetretener Nierenstein entfernt und ein weiterer Kelchstein links diagnostiziert.

Der Internist Dr. W. überwies die Klägerin am 28.6.1984 zum "Ausschluss eines Hyperparathyreodismus", das heisst einer Überfunktion der Nebenschilddrüsen, zur weiteren internistischen Behandlung an das Klinikum G. Am selben Tag erfolgte die stationäre Aufnahme der Klägerin in die dortige Medizinische Klinik II, wo sie sich verschiedenen Untersuchungen unterzog.

Ein konsiliarisch von den Internisten wegen einer Nephrolitihiasis (Nierensteinkrankheit) links zugezogener, namentlich nicht bekannter Urologe des Klinikums G. hielt am 6.7.1984 folgendes fest:

"Befund IUG nicht eindeutig beurteilbar. ...

Derzeit kein Infekt

keine Beschwerden

ESWL möglich (ggf. Kompl. durch Lage (Anmerkung: schlecht leserlich, eventuell "Enge") im Kelchhals)

Indikation nur bei Beschwerden und chron. Infekt. Terminsabsprache bitte mit 4741"

Der Klägerin wurde vorgeschlagen, sich einer ESWL der linken Niere zu unterziehen.

In den Krankenunterlagen des Klinikums G. befindet sich ein weder ausgefülltes noch unterschriebenes Formular einer "Einverständniserklärung" hinsichtlich einer "berührungsfreien Stoßwellensteinzertrümmerung", in dem auf "typische Gefahren wie Harnwegsinfektion, Blutung, Verletzung benachbarter Organe" hingewiesen wurde.

Am 10.7.1984 wurde bei der Klägerin die ESWL durchgeführt.

Danach kam es zum Abgang kleinerer Konkremente, nicht aber des ganzen Nierensteins.

Am 28.7.1984 erfolgte die Entlassung der Klägerin aus der stationären Behandlung.

Am 14.3.1985 wurde wiederum im Klinikum G. bei der Klägerin ein Hämatom an der linken Niere ausgeräumt, dass sich, wie in der Berufungsinstanz vom Beklagten nicht mehr bestritten wird, als Folge der ESWL gebildet hatte.

Mit Schreiben vom 28.11.1988 verzichtete die Universität M. im Namen des Beklagten auf die Einrede der Verjährung mit der Einschränkung, dass zum Zeitpunkt der Abgabe der Verzichtserklärung nicht bereits Verjährung eingetreten sei.

In den Jahren 1991 und 1992 unterzog sich die Klägerin im Krankenhaus St. Joseph in Regensburg dreimal einer extrakorporalen Stoßwellen-Lithotripsie.

Die Klägerin hat vorgetragen, sie sei vor der ESWL vom 10.7.1984 weder über Risiken und Chancen noch über Behandlungsalternativen aufgeklärt worden. Bei ordnungsgemäßer Aufklärung hätte sie sich dem Eingriff nicht, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt, unterzogen.

Die ESWL sei im Übrigen nicht indiziert gewesen und darüber hinaus nicht kunstgerecht durchgeführt worden. Abgesehen davon hätte sie wegen auftretender Komplikationen abgebrochen werden müssen. Außerdem habe die postoperative Behandlung nicht den Regeln der ärztlichen Kunst entsprochen.

Aufgrund der ...

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