Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsgefahr, Revision, Unrichtigkeit, Zulassung, Kostenentscheidung, Schaden, Haftung, Tatsachenfeststellung, Zeuge, Vollstreckbarkeit, Zweifel, Fehler, Zeugen, Schriftsatz, Fortbildung des Rechts, Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, konkreter Anhaltspunkt

 

Verfahrensgang

LG München I (Urteil vom 29.01.2021; Aktenzeichen 17 O 13441/19)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten vom 11.02.2021 wird das Endurteil des LG München I vom 29.01.2021 (Az. 17 O 13441/19) in Nr. 1 - 3 abgeändert und wie folgt neu gefasst:

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

V. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 4.659,81 EUR festgesetzt.

 

Gründe

A. Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).

B. Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache vollumfänglich Erfolg.

I. Das Landgericht hat zu Unrecht einen Verstoß des beklagten Zeugen P. gegen die Vorschrift des § 10 StVO angenommen und damit zu Unrecht unter Zugrundelegung einer Haftungsquote von 50% einen Anspruch des Klägers auf Schadensersatz bejaht.

1. Dem Erstgericht ist kein Fehler bei der Tatsachenfeststellung unterlaufen.

Der Senat ist nach § 529 I Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden, weil keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen werden oder sonst ersichtlich sind.

Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung sind ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche, vgl. BGH VersR 2005, 945; Senat, Urt. v. 9.10.2009 - 10 U 2965/09 [juris] und v. 21.6.2013 - 10 U 1206/13). Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinn ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen (BGHZ 159, 254 [258]; NJW 2006, 152 [153]; Senat, a. a. O.); bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügen nicht (BGH, a. a. O.; Senat, a. a. O.).

Ausweislich der seitens des Erstgerichts ordnungsgemäß und sorgfältig durchgeführten Beweisaufnahme steht fest, dass der Fahrer des klägerischen Lkws, der Zeuge Pl., die Fahrertüre vollständig geöffnet hat und der Fahrer des bei der Beklagten versicherten Lkws, der Zeuge P., beim Anfahren die geöffnete Tür nicht erkennen konnte (vgl. S. 6 des Ersturteils).

2. Das Erstgericht hat jedoch die sachlich-rechtlichen Fragen nur teilweise zutreffend beantwortet, indem es zu Unrecht einen Verstoß des beklagten Zeugen P. gegen die Vorschrift des § 10 StVO angenommen hat.

a) Im Ausgangspunkt ist zu berücksichtigen, dass die beiden Fahrer, die Zeugen Pl. und P., grundsätzlich das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme zu beachten hatten (§ 1 II StVO), da sie sich beide auf dem Betriebsgelände der Post jeweils an Laderampen aufgehalten haben.

b) Zutreffend nahm das Erstgericht einen Verstoß des klägerischen Zeugen Pl. gegen die Vorschriften der StVO an. Denn die vollständige Öffnung der Türe durch den klägerischen Zeugen P. verstieß gegen § 1 II StVO, wobei insoweit der Rechtsgedanke des § 14 StVO heranzuziehen ist. Der Zeuge musste erkennen, dass wegen der Schrägstellung des Lkws des Zeugen P. und der Nähe der Fahrzeuge zueinander die vollständige Öffnung der Türe bei einem Anfahren des benachbarten Lkws zu einer Beschädigung der Türe führen wird. Dass der Zeuge Pl. diese örtliche Lage unzweifelhaft erkannte, ergibt sich bereits daraus, dass er wahrheitswidrig behauptete, dass er wegen der Enge die Türe nur zur Hälfte geöffnet habe (vgl. S. 5 des Ersturteils).

c) Dem Zeugen P. ist dagegen ein Verkehrsverstoß nicht vorzuwerfen. Dabei ist schon grundsätzlich darauf hinzuweisen, dass der vom Landgericht zu Lasten des Zeugen unterstellte Verstoß gegen § 10 StVO rechtsfehlerhaft ist. § 10 StVO ist auf dem Betriebsgelände direkt bereits nicht anwendbar. Im Übrigen ist auch über § 1 II StVO der Rechtsgedanke des § 10 StVO nicht einschlägig, da das Anfahren von einer Laderampe weg nach vorne kein "Anfahren vom Fahrbahnrand" darstellt. Da nicht geklärt werden konnte, wie lange die Türe bereits geöffnet war, kann dem Zeugen P. auch nicht vorgeworfen werden, er hätte vor dem Losfahren um seinen Lkw gehen müssen, um Gefährdungslagen zu ermitteln. Auch die Pflicht zur Einweisung besteht nur dann, wenn es "erforderlich" ist (vgl. § 10 StVO). Dies war hier aber nicht der Fall. Wer nach vorne von einer Laderampe wegfahren will, muss nicht damit rechnen, dass ein knapp danebenstehender Lkw-...

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