Leitsatz (amtlich)

Auch ohne Protokollberichtigung entfällt die Beweiskraft des Protokolls, wenn sich eine Urkundsperson nachträglich vom Protokollinhalt distanziert und sich dies zugunsten des Angeklagten auswirkt.

 

Normenkette

StPO § 274 S. 1

 

Tatbestand

Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten am 12. April 2007 wegen Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten. Die Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht mit Urteil vom 25. September 2008 der Sache nach als unzulässig. Mit der Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist statthaft, da sie sich gegen ein Urteil einer Strafkammer richtet, das nach § 322 Abs. 1 Satz 2 StPO aufgrund mündlicher Verhandlung ergangen ist und auch im Übrigen zulässig, da sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden ist.

Die Revision hat mit der allgemeinen Sachrüge Erfolg, da das Landgericht das Rechtsmittel des Angeklagten in der fehlerhaften Annahme, einer Entscheidung in der Sache stünde ein Rechtsmittelverzicht entgegen, ohne Sachprüfung verworfen hat.

Hierin liegt ein durchgreifender Sachmangel, nämlich die Nichtanwendung materiellen Rechts (vgl. dazu BayObLGSt 1996, 88/89). Die im Wege des Freibeweises erhobenen Feststellungen haben ergeben, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht am 12. April 2007 nicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet hatte (§ 302 Abs. 1 StPO).

1.

Bereits die zulässig erhobene Sachrüge eröffnet dem Revisionsgericht die Prüfung von Prozessvoraussetzungen und Verfahrenshindernissen von Amts wegen (KK- Kuckein StPO 6. Aufl. § 352 Rn. 3). Dazu gehört auch die Frage der Zulässigkeit der Berufung (Meyer-Goßner StPO 51. Aufl. § 352 Rn. 3). Die Prüfung erfolgt im Freibeweis (Meyer-Goßner Einl. Rn. 152), sofern nicht die Beweiskraft des Protokolls (§ 274 StPO) entgegensteht. Ein im Anschluss an die Urteilsverkündung erklärter Rechtsmittelverzicht nimmt an der Beweiskraft des § 274 StPO teil, wenn er nach § 273 Abs. 3 Satz 3 StPO beurkundet worden ist (Meyer-Goßner § 274 Rn. 11).

Das Protokoll der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht vom 12. April 2007 enthält im Anschluss an das verkündete Urteil hierzu folgende Feststellungen:

...

Auf Rechtsmittelbelehrung wurde verzichtet.

Der Angeklagte und der Verteidiger erklärten:

Auf Rechtsmittel wird verzichtet. Vorgelesen und genehmigt.

...

Das Protokoll wurde insoweit auch nicht nachträglich berichtigt. Den Protokollberichtigungsantrag des Angeklagten wies das Amtsgericht mit Beschluss vom 11. Juni 2008 mit der Begründung zurück, es hätten nicht beide Urkundspersonen darin übereingestimmt, dass das Protokoll insoweit unrichtig sei.

Dennoch wird im vorliegenden Fall der Rüge nicht durch die Beweiskraft des Protokolls der Boden entzogen.

2.

In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass - auch ohne Protokollberichtigung - die Beweiskraft des Protokolls entfällt, wenn sich eine Urkundsperson nachträglich vom Protokollinhalt distanziert und sich dies zugunsten des Angeklagten auswirkt (BGHSt 51, 298/308 m.w.N; BGH NStZ-RR 2006, 112/115; BayObLGSt 1973, 200/201).

Die dienstliche Stellungnahme des Amtsrichters vom 11. Juni 2008 lautet wie folgt:

"Ich meine mich zu erinnern, dass ein Rechtsmittelverzicht nicht erfolgt ist, bin mir jedoch nach so langer Zeit nicht mehr sicher".

Aus dieser Äußerung wird, auch ohne dass der Amtsrichter das Protokoll ausdrücklich als unrichtig bezeichnet, deutlich, dass er nicht mehr davon überzeugt ist, dass der protokollierte Rechtsmittelverzicht stattgefunden hat.

3.

Die distanzierende dienstliche Erklärung des Richters als eine der Urkundspersonen hat zur Folge, dass der Senat im Freibeweisverfahren zu prüfen und zu entscheiden hat, ob der Rechtsmittelverzicht erklärt wurde oder nicht. Dieser Auffassung steht nicht entgegen, dass nach § 274 StPO gegen die Richtigkeit des Protokolls nur der Nachweis der Fälschung zulässig ist. Es handelt sich vorliegend nicht um einen Beweis gegen die Richtigkeit des Protokolls, sondern um den durch die nachträgliche dienstliche Äußerung einer der beiden Urkundspersonen herbeigeführten Wegfall der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der in § 274 StPO enthaltenen Beweisregel (BGHSt 4, 364/365).

Der Senat ist angesichts der dienstlichen Äußerungen des Amtsrichters sowie der vom Revisionsgericht eingeholten Stellungnahme des Sitzungsstaatsanwaltes, der ebenfalls meint sich zu erinnern, dass weder vom Angeklagten noch vom Verteidiger ein Rechtsmittelverzicht erklärt wurde, sich aber auch wegen des Zeitablaufs nicht sicher ist, überzeugt, dass der Vortrag der Revision richtig ist, wonach kein Rechtsmittelverzicht erklärt wurde. Alle Prozessbeteiligten, die eine konkrete Erinnerung an den Vorgang haben, gehen im Grundsatz übereinstimmend davon aus, dass kein Rechtsmittelverzicht erklärt wurde. Dafür spricht auch die der Verurteilung vorausgehende Verfahrenslage, nach der der Verurteilung des Angeklagten zu einer unbedingten Freiheitsstrafe ein Antr...

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