Entscheidungsstichwort (Thema)

Stimmbandnervschädigung bei Schilddrüsen-Operation

 

Leitsatz (amtlich)

1. Liegt eine nicht vorhersehbare, atypische Verlagerung eines Nerven vor (hier Nervus vagus), dessen Verletzung normalerweise sicher ausgeschlossen werden kann, so kann aus der erfolgten Verletzung des Nerven nicht auf einen Behandlungsfehler des Arztes geschlossen werden.

2. Über die durch eine Voroperation bedingten zusätzlichen Risiken hinsichtlich der Verletzung des Stimmbandnervens muss grundsätzlich aufgeklärt werden. Dies gilt allerdings nicht hinsichtlich der Möglichkeit einer völlig atypischen Verlagerung des Nervus vagus, die als solche nicht vorhersehbar war.

 

Normenkette

BGB §§ 253, 280, 611, 823

 

Verfahrensgang

LG Bonn (Urteil vom 27.10.2010; Aktenzeichen 9 O 441/09)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das am 27.10.2010 verkündete Urteil der 9. Zivilkammer des LG Bonn - 9 O 441/09 - wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Klägerin auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des vollstreckbaren Betrags abzuwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des zu vollstreckenden Betrags leisten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Bei der am 18.10.1937 geborenen Klägerin blieb nach einer im Jahr 1984 durchgeführten Schilddrüsenoperation eine Stimmbandschädigung links zurück. Im Jahr 2003 wurde nach Anfertigung einer Computertomografie eine Rezidivstruma beschrieben, die die Luftröhre verdrängte und einengte. Mit Schreiben vom 11.11.2005 empfahl die Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin des Universitätsklinikums C. bei Dyspnoe als führendem Symptom aufgrund der progredienten Verlagerung der Luftröhre eine operative Sanierung. Am 17.1.2006 stellte sich die Klägerin im Krankenhaus der Beklagten zu 1) vor. Unter diesem Datum unterzeichnete sie auf einem Diomed-Aufklärungsbogen eine Einverständniserklärung. Nach stationärer Aufnahme am 26.1.2006 entfernte der Beklagte zu 3) am 27.1.2006 den Schilddrüsenknoten. Gegen Ende der Operation bei der Naht der geraden Halsmuskulatur bemerkte er, dass es zu einer Durchtrennung des Nervus vagus gekommen war. Postoperativ bestanden starke Atem- und Sprechbeschwerden. Am 15.2.2006 wurde die Klägerin in das Universitätsklinikum L. verlegt, wo ein Tracheostoma angelegt wurde. Bei der Klägerin besteht eine beidseitige Stimmlippenlähmung. Sie ist weiterhin auf das Tragen einer Sprechkanüle angewiesen.

Die Klägerin, die den Beklagten eine fehlerhafte Durchführung des Eingriffs und eine mangelhafte Eingriffs- und Risikoaufklärung vorgeworfen hat, hat mit der Klage ein Schmerzensgeld in einer Größenordnung von 50.000 EUR und die Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten verlangt.

Die Klägerin hat beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.12.2009 zu zahlen,

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten i.H.v. 1.641,96 EUR zu zahlen.

Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie haben einen Behandlungsfehler bestritten. Der Nervus vagus sei in völlig ungewöhnlicher Weise verlagert gewesen. Die Klägerin sei vom Arzt Dr. T. umfasst aufgeklärt worden. Insbesondere sei sie über die erhöhte Gefahr einer Nervenschädigung bei Rezidiveingriffen unterrichtet worden.

Das LG hat ein chirurgisches Gutachten von Prof. Dr. A. eingeholt (Bl. 90 ff. d.A.) und den Sachverständigen angehört (Bl. 122 ff. d.A.).

Daraufhin hat es die Klage abgewiesen. Ein Behandlungsfehler sei nicht gegeben. Bei der Klägerin habe ein atypischer und unvorhersehbarer Verlauf des Nervus vagus vorgelegen. Der Nerv liege normalerweise in deutlichem Abstand hinter der geraden Halsmuskulatur. Eine Verlagerung des Nervenverlaufs bis unmittelbar an die Rückseite der geraden Halsmuskulatur sei in der wissenschaftlichen Literatur nicht beschrieben. Es liege auch kein Aufklärungsfehler vor. Die das Aufklärungsgespräch führende Ärztin habe in dem verwendeten Aufklärungsbogen individuelle handschriftliche Ergänzungen aufgenommen, u.a. hinsichtlich des Risikos einer Stimmbandnervenschädigung bei vorbestehender linksseitiger Recurrensparese. Hinsichtlich einer Verletzung des Nervus vagus habe keine spezielle Aufklärungspflicht bestanden, da eine solche Schädigung nicht voraussehbar gewesen sei.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihre erstinstanzlichen Anträge weiter. Die Entscheidung des LG beruhe auf bloßer Spekulation des Sachverständigen. Tatsächliche Anhaltspunkte für einen atypischen Verlauf des Nervus vagus lägen nicht vor. Solche ergäben sich nicht aus der voroperativ angefertigten CT-Aufnahme. Im Operationsbericht sei die Lage des Nervus vagus vor der Durchtrennung nicht beschrieben. Werde bei einer Schilddrüsenoperation ein Nerv durchtrennt, der gewöhnlich mehrere Zentim...

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