Leitsatz (amtlich)

1. Art. 32 der Europäischen Insolvenzverordnung - EuInsVO, der die Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Insolvenzverfahren in den Mitgliedsstaaten regelt, findet trotz des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union auf in England durchgeführte Insolvenzverfahren weiterhin Anwendung, wenn diese vor dem Ablauf der Übergangszeit am 31.12.2020 eingeleitet wurden. "Einleitung" des Insolvenzverfahrens meint dabei die Eröffnung des Insolvenzverfahrens.

2. Die zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens ergangenen Entscheidungen eines englischen Gerichts in einem vor dem 31.12.2020 eingeleiteten Insolvenzverfahren sind mithin ohne weitere Förmlichkeiten in Deutschland anzuerkennen. Dies gilt auch für eine in England erteilte Restschuldbefreiung. Diese stellt im englischen Bankruptcy Law eine Folge der Einstellungsentscheidung dar und wird daher von Art. 32 EuInsVO erfasst.

3. Die Verlagerung des Lebensmittelpunktes in einen anderen Mitgliedstaat, um ein "günstigeres Insolvenzrecht" zu erlangen, ist als geschickte Gestaltung grundsätzlich legitim und verstößt für sich genommen noch nicht gegen den ordre public-Vorbehalt (Anschluss an EuGH, Urteil vom 11. November 2021 - C-168/20, NZG 2022,29). Die Behauptung des Gläubigers, der Schuldner habe einen Lebensmittelpunkt in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nur vorgetäuscht, reicht ebenso wie die behauptete Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht aus, um der dem Schuldner erteilten Restschuldbefreiung die Anerkennung in Deutschland zu versagen. Denn nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens hätte der Gläubiger vor englischen Gerichten gegen die Restschuldbefreiung vorgehen müssen und kann mit seinen Einwendungen im Rahmen der Anerkennung der Entscheidung nicht gehört werden (Anschluss an BGH, Urteil vom 10. September 2015 - IX ZR 304/13, zu Art. 16, 25 EuInsVO a. F.).

4. Die Frage, ob eine Forderung von einer im Ausland eingetretenen Restschuldbefreiung erfasst ist, ist von den deutschen Gerichten grundsätzlich nach Art. 7 Abs. 2 Satz 2 lit. k) EuInsVO unter Anwendung des ausländischen - hier englischen - Rechts zu beantworten.

 

Normenkette

EUV 2015/848 Art. 7 Abs. 2 S. 2 Buchst. k, Art. 19, 25 aF, Art. 32-33, 16 aF; ZPO § 767

 

Verfahrensgang

LG Mainz (Urteil vom 20.07.2023; Aktenzeichen 4 O 53/23)

 

Tenor

Der Senat erwägt, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Mainz - Einzelrichterin - vom 20.07.2023 durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.

 

Gründe

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht. Die Berufung hat auch offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Ein Termin zur mündlichen Verhandlung ist nicht geboten. Dem Beklagten wird eine Frist zur Stellungnahme gesetzt bis zum 10.01.2024. Es wird zur Vermeidung weiterer Kosten angeregt, die Berufung zurückzunehmen. In diesem Fall ermäßigen sich die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 Kostenverzeichnis zum GKG). Die Gründe werden nachfolgend dargestellt:

I. Der Kläger wendet sich nach einem in England durchgeführten Verbraucherinsolvenzverfahren mit erteilter Restschuldbefreiung im Wege der Vollstreckungsabwehrklage gegen die von dem Beklagten betriebene Zwangsvollstreckung aus einem Urteil und einem Kostenfestsetzungsbeschluss. Ferner begehrt er von dem Beklagten die Rückzahlung von aus verschiedenen Vollstreckungsmaßnahmen erlangten Beträgen in Höhe von insgesamt 22.191,37 EUR.

Mit Berufungsurteil des Senats vom 07.10.2014, 3 U 91/14, wurde der Kläger rechtskräftig verurteilt, an den Beklagten 50.000 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 24.08.2012 sowie an den Kläger und seine Ehefrau, E. H., 18.905,70 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 24.08.2012 zu zahlen. Weiterhin wurde der Kläger verurteilt, an die M. H. GmbH, vertreten durch den Beklagten als Geschäftsführer, 165.000 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 24.08.2012 zu zahlen. Hinsichtlich des Sachverhalts und der Gründe, die zu der Verurteilung führten, wird auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des Urteils (Anlage B1, Anlagenband Beklagtenseite eAkte LG) verwiesen.

Mit Kostenfestsetzungsbeschluss des Landgerichts Mainz vom 16.01.2015 wurden die in diesem Rechtsstreit von dem Kläger an den Beklagten zu erstattenden Kosten rechtskräftig festgesetzt.

Der Beklagte betreibt aus beiden Titeln die Zwangsvollstreckung gegen den Kläger.

Über das Vermögen des Klägers wurde in England am 19.02.2020 ein Verbraucherinsolvenzverfahren nach englischem Recht eröffnet. Im Rahmen dieses Insolvenzverfahrens benannte der Kläger den Beklagten als Gläubiger, der mit der bestehenden Forderung in eine Gläubigerliste aufgenommen wurde (Anlagen K3 und K4, Anlagenband Klägerseite eAkte L...

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