Leitsatz (amtlich)

Bei der Auslegung eines durch einen jüdischen Erblasser in der Zeit des Nationalsozialismus errichteten Testaments kann die nicht vorhergesehene Änderung der Rechtslage durch den Wegfall diskriminierender gesetzlicher Regelungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine für eine ergänzende Testamentsauslegung hinreichende Lücke darstellen.

 

Tenor

1. Die Beschwerde der Beteiligten zu 1 und 2 gegen den Beschluss des Notariats 1 Baden-Baden vom 12. Juni 2017, Az. 1 NG 260/1940, wird zurückgewiesen.

2. Die Beteiligten zu 1 und 2 haben die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

4. Der Geschäftswert für das Beschwerdeverfahren wird auf die Wertstufe bis 1.200.000 Euro festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Erblasser errichtete am 18. Mai 1939 das folgende handschriftliche Testament:

"Mein Testament

Hierdurch widerrufe ich alle früheren letztwilligen Verfügungen und bestimme folgendes:

I. Zum Alleinerben bestimme ich meinen Neffen, Dr. H. G. in Breslau, ... und im Falle seines Ablebens dessen Abkömmlinge zu gleichen Teilen untereinander.

II. E. A. in Breslau ist auf jeden Fall von der Erbschaft ausgeschlossen.

III. An Vermächtnissen sollen erhalten:

1. meine Schwester, Frau C. G. in Breslau: Zehn Prozent des Reinnachlasses ...

2. Fräulein W. F. B.-B.: Meine Haushälterin soll 8.000.- RM Achttausend Reichsmark erhalten für ihre aufopfernde Pflege während meiner langen Krankheitsdauer, für welche eine Entschädigung in Lohn nicht enthalten war.

3. Fräulein C. F., B.-B. ... 2000.- RM Zweitausend Reichsmark - für geleistete Dienste.

4. Fräulein M. S., B.-B. ... 5000.- RM Fünftausend Reichsmark - für geleistete Dienste.

5. Fräulein A. S., B.-B. ... 5000.- RM Fünftausend Reichsmark - für geleistete Dienste.

IV. ...

V. Zu meinem Testamentsvollstrecker ernenne ich hierdurch Herrn Konsulent H. H. in B.-B. gegen eine angemessene Vergütung aus dem Nachlass. ..."

Am 15. Juli 1939 verfasste der Erblasser folgenden handschriftlichen Nachtrag zu seinem Testament vom 18. Mai 1939:

"Da mein Neffe, Dr. H. G., nach New York ausgewandert ist, bestimme ich zu meinem Alleinerben meine Schwester C. G. ... . Sollte diese nicht mehr am Leben sein, so soll mein Vermögen nach Berücksichtigung der Vermächtnisse an die J. Gemeinde B.-B. übergehen zur Unterstützung hilfsbedürftiger Juden. ..."

Frau C. G. verstarb am 11. November 1939. Der Erblasser verstarb am 21. Juli 1940. Das Testament und der Nachtrag wurden am 31. Juli 1940 eröffnet. Herrn Konsulent Dr. H. H. wurde am 13. August 1940 ein Testamentsvollstreckerzeugnis erteilt. Der Wert des Nachlasses wurde durch ihn im August 1940 mit 285.000 bis 290.000 RM veranschlagt.

Der Polizeidirektor in Baden-Baden richtete am 5. September 1940 ein Schreiben an das Notariat Baden-Baden als Nachlassgericht. Darin wies er darauf hin, dass das Badische Landesmuseum Interesse an einer in der Erbmasse befindlichen größeren Sammlung von Kunstgegenständen bekundet habe, und bat, die Beschlagnahme näher bezeichneter Kunstgegenstände zu Gunsten des Reichspropagandaamts auszusprechen sowie die Überführung an das Badische Landesmuseum in Karlsruhe durchführen zu lassen. Mit Schreiben vom 13. September 1940 teilte der Polizeidirektor in Baden-Baden mit, dass eine Beschlagnahme durch das Notariat nicht möglich sei und er den Sachverhalt dem Innenministerium in Karlsruhe vorgelegt habe. Am 3. Oktober 1940 informierte der Polizeidirektor in Baden-Baden darüber, dass es Sache des Badischen Landesmuseums sei, ein Vorkaufsrecht nach § 14 der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 (RGBl. 1938 I S. 1709) durch die öffentliche Ankaufstelle durchführen zu lassen. Mit Schreiben vom 17. Oktober 1940 wurde der Testamentsvollstrecker darauf hingewiesen, dass die Kunstgegenstände insbesondere Porzellansammlung aus dem Nachlass unter § 14 der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens fielen; gleichzeitig wurde der Testamentsvollstrecker aufgefordert, sich umgehend mit dem Direktor des Badischen Landesmuseums "wegen der Verwertung der Sammlung" in Verbindung zu setzen.

Am 22. und 23. Oktober 1940 wurden über 6.500 badische, pfälzische und saarländische Juden festgenommen und in das Internierungslager Gurs am Fuße der südfranzösischen Pyrenäen verschleppt (zur Deportation der Juden aus Baden: Teschner, Die Deportation der badischen und saarpfälzischen Juden am 22. Oktober 1940, Frankfurt a.M. 2002, S. 71 ff.; Landeszentrale für politische Bildung, Die Deportation der badischen und saarpfälzer Juden in das Internierungslager Gurs in den Pyrenäen, Stuttgart 2010, S. 16 ff. m.w.N.). Zu den Deportierten gehörte auch Herr Dr. H. H. (Verzeichnis der am 22. Oktober aus Baden ausgewiesenen Juden, Stadtkreis Baden-Baden, abgedruckt in: Landeszentrale für politische Bildung, Die Deportation der badischen und saarpfälzer Juden in das Internierungslager Gurs in den Pyrenäen, Stuttgart 2010, S. 29). Das Nachlassgericht vermerkte am 25. Oktober 1940, dass sich Herr Konsulent Dr....

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge