Entscheidungsstichwort (Thema)

Anwendung des Haager Kindesentführungsübereinkommens. Widerrechtlichkeitsbescheinigung. Kindeswille. Kindeswohl

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei Art. 15 HKÜ handelt es sich um eine fakultative Verfahrensvorschrift; die Vorlage der Widerrechtlichkeitsbescheinigung soll den Gerichten des ersuchten Staates die Anwendung des Art. 3 HKÜ nur erleichtern und sie in die Lage versetzen, ohne umfangreiche Feststellungen zum (ausländischen) Aufenthaltsrecht eine Rückgabeanordnung mit der nach Art. 11 HKÜ gebotenen Beschleunigung zu treffen

2. Im Rahmen des Art. 13 Abs. 2 HKÜ kann es einzig darum gehen, ob der Kindeswille, der in jedem Fall - auch wenn er beeinflusst ist - psychische Realität ist, zu beachten ist, weil er bereits so verfestigt ist, dass er nicht mehr einfach - d.h. ohne psychischen Schaden anzurichten, also ohne Kindeswohlgefährdung - veränderbar/wandelbar ist. Dies ist - abhängig von der Individualität des einzelnen Kindes - ab einem Kindesalter von ca. 10 Jahren anzunehmen.

3. Zur Anwendung der Kindeswohlklausel des Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ.

 

Normenkette

HKÜ Art. 13, 15

 

Verfahrensgang

AG Karlsruhe (Beschluss vom 14.12.2005; Aktenzeichen 1 F 299/05)

 

Tenor

1. Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des AG - FamG - Karlsruhe vom 14.12.2005 - 1 F 299/05 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass das Kind M., geb. am ...11.1997, nach Weißrussland zurückzuführen ist.

2. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die im Beschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

3. Der Beschwerdewert wird auf 3.000 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Antragsteller ist deutscher Staatsangehöriger, während die Antragsgegnerin die weißrussische Staatsangehörigkeit besitzt. Die Ehe der Parteien wurde nach weißrussischem Recht am 1995 vor dem Eheschließungshaus der Stadt Minsk registriert. Aus der Ehe ist die Tochter M., geboren im November 1997 in Berlin, hervorgegangen, die sowohl die weißrussische als auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Die Parteien unterhielten zwei Wohnsitze in Berlin und Minsk, wobei sich die Antragsgegnerin und die Tochter überwiegend in Minsk aufhielten. Dort besuchte die Tochter vom ...2000 bis zum ...2004 den Kindergarten und vom 1.9.2004 bis zum 27.5.2005 die Mittelschule. Die Parteien trennten sich im November 2004.

Zur Jahreswende 2004/2005 - am 27.12.2004 - reiste die Familie zunächst gemeinsam nach Deutschland - nach Berlin. Dort verblieben dann der Antragsteller und das Kind, während die Antragsgegnerin für eine Woche alleine zu ihrem neuen Lebenspartner und jetzigen Ehemann R. nach Süddeutschland weiter reiste. Als die Antragsgegnerin nach Ablauf dieser Woche am 4.1.2005 zusammen mit R. nach Berlin zurückkehrte, wollte der Antragsteller das Kind in Berlin behalten, während die Antragsgegnerin darauf bestand, nach den Weihnachtsferien zum weißrussischen Schulbeginn (nach Epiphanias) mit dem Kind nach Weißrussland zurückzukehren. Die Antragsgegnerin strengte daher ihrerseits vor dem AG Pankow/Weißensee noch am 4.1.2005 ein Rückführungsverfahren nach dem Haager-Kindesentführungsübereinkommen an. Am 5.1.2005 beschloss das AG Pankow/Weißensee im Wege der einstweiligen Anordnung, dass der Mutter - der Antragsgegnerin des vorl. Verfahrens - zur Sicherung des Rückführungsanspruchs das Kind zur alleinigen Obhut einschließlich der alleinigen Aufenthaltsbestimmung anvertraut werde. Am 6.1.2005 reiste die Antragsgegnerin des vorliegenden Verfahrens mit dem Kind zurück nach Weißrussland. Das Verfahren beim AG Pankow/Weißensee wurde daraufhin von beiden Parteien nicht weiter verfolgt. Im Januar 2005 zog der Antragsteller, der bis zum ...Mai 2005 mit Hauptwohnsitz in Berlin gemeldet war, ebenfalls nach Minsk, wo er seit dem ...Mai 2005 seinen Hauptwohnsitz hat. Er lernte hier bereits Ende Januar 2005 seine jetzige - neue - Ehefrau kennen.

Die Ehe der Parteien wurde durch Beschluss des Gerichts des Bezirks Savodskoj der Stadt Minsk vom 15.4.2005 geschieden. Der Scheidungsbeschluss bestimmt zugleich, dass die Tochter "mit der Mutter bleiben soll". Mit weiterem Beschl. v. 15.4.2005 hat das Gericht des Bezirks Savodskoj der Stadt Minsk eine Vereinbarung der Parteien über das Kind bestätigt. Danach ist (u.a.) der Wohnort von M. der Wohnort der Antragsgegnerin, Wohnung 140 im Haus 34, Rotmistrow-Strasse, Stadt Minsk - bis zur Änderung der bedeutenden Umstände (Ziff. 1); im Fall der (zeitweiligen oder ständigen) Ausreise der Antragsgegnerin aus der Republik Belarus soll sich die Ausreise von M. nach den Gesetzen der Republik Belarus bestimmen (Ziff. 2).

Diese sehen vor, dass für die Ausreise eines weißrussischen Kindes die schriftliche, notariell beglaubigte Zustimmung des anderen Elternteils erforderlich ist, während ein Kind mit einer anderen Staatsangehörigkeit auch ohne Zustimmung des anderen Elternteils ausreisen kann, ohne dadurch weißrussische Ausreisevorschriften zu verletzen.

Zwischen den P...

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