Leitsatz (amtlich)

Die Inaugenscheinnahme eines Videofilm ist während der Abwesenheit des Angeklagten unzulässig.

 

Gründe

I.

Sachverhalt

Die Strafkammer hat den Angeklagten wegen Sachbeschädigung in 96 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt.

Während der Hauptverhandlung hatte die Strafkammer wegen einer polizeilichen Sperrerklärung neben dem Ausschluss der Öffentlichkeit die Entfernung des Angeklagten während der Dauer der Inaugenscheinnahme des von den Ermittlungsbehörden anlässlich der Observation des Angeklagten gefertigten Videofilms angeordnet.

II.

Die Entscheidung

Die Revision des Angeklagten hatte mit der Verfahrensrüge Erfolg.

1.

Vorliegen eines Verfahrensfehlers

Die Inaugenscheinnahme des Videofilms in Abwesenheit des Angeklagten war unzulässig. Der Angeklagte war entgegen § 230 StPO, der die ununterbrochene Anwesenheit des Angeklagten gebietet, wenn nicht einer der gesetzlichen Ausnahmegründe eingreift, während der Augenscheinseinnahme des Videofilms ohne gesetzlichen Grund abwesend. Dass es sich insoweit um einen Teil der Beweisaufnahme und damit zugleich um einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung handelte, liegt auf der Hand. Der Angeklagte kann weder auf seine durch § 230 StPO zwingend vorgeschriebene ununterbrochene Anwesenheit in der Hauptverhandlung wirksam verzichten noch kann das Gericht ihn von seiner Anwesenheitspflicht wirksam entbinden, wenn die Voraussetzungen einer gesetzlich vorgesehenen Ausnahme nicht vorliegen.

2.

Keine Rechtfertigung aus § 247 StPO

Ein gesetzlicher Grund für die vorüber gehende Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal lag hier nicht vor. Angesichts des eindeutigen Wortlauts kann die vorübergehende Ausschließung des Angeklagten auf § 247 StPO nicht gestützt werden; selbst in den Fällen, in denen das Gericht die Entfernung des Angeklagten während der Vernehmung eines Zeugen prozessordnungsgemäß angeordnet hat, ist die Durchführung eines Augenscheins während der Vernehmung des Zeugen durch § 247 StPO nicht mehr gedeckt. Eine erweiternde oder entsprechende Anwendung der - als Ausnahmevorschrift eng auszulegenden - Regelung des § 247 StPO auf die Durchführung eines Augenscheinsbeweises scheidet aus. Kann ein Augenscheinsobjekt angesichts einer von der - zuständigen - Behörde in entsprechender Anwendung des § 96 StPO abgegebenen Sperrerklärung nicht in Anwesenheit des Angeklagten in Augenschein genommen werden, so muss die Einnahme des Augenscheins in der Hauptverhandlung unterbleiben. Es steht dem Gericht allerdings frei, einen Augenscheinsgehilfen hinzuzuziehen und ihn in der Hauptverhandlung als Zeugen über seine Wahrnehmungen zu vernehmen.

3.

Keine Heilung des Verfahrensverstoßes

Eine Heilung des Verfahrensverstoßes im weiteren Verlauf der Haupt-verhandlung ist nicht eingetreten. Eine prozessordnungsgemäße Wieder-holung des Augenscheins in Anwesenheit des Angeklagten hat nicht stattgefunden. Dem Tatrichter, der sich im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung - erfolglos - um eine Aufhebung der Sperrerklärung bemüht hat und in den Urteilsgründen auf das Ergebnis des Augenscheins ausdrücklich abgestellt hat, ist der Verfahrensfehler ersichtlich verborgen geblieben. Es bedarf vorliegend auch keiner Entscheidung der Frage, ob eine Heilung des hier eingetretenen Verfahrensverstoßes auch auf andere Weise in Betracht kommt; möglicherweise hätte eine Heilung auch dadurch eintreten können, dass sich das Gericht nach ausdrücklicher Erklärung, die verfahrensfehlerhaft erfolgte Beweiserhebung bei der Urteilsfindung nicht zu berücksichtigen, eines Augenscheinsgehilfen bedient und ihn über seine Wahrnehmungen als Zeugen vernommen hätte, da ein solcher allein mit der Prüfung der Beweisfrage beauftragt gewesen war, ob die Qualität des Films und des Fotoprints für die vom Angeklagten für die von der Strafkammer später abgelehnte Einholung eines anthropologischen Identitätsgutachtens ausreicht. Auch die von der Generalstaatsanwaltschaft erwogene Umdeutung der Augenscheinseinnahme, die die vollzählig anwesende Strafkammer unter Teilnahme des Staatsanwalts und des Verteidigers im Sitzungssaal vorgenommen hat, in eine durch den beauftragten oder ersuchten Richter vorgenommene Beweiserhebung scheidet aus. Das erkennende Gericht kann sich nicht selbst in voller Besetzung mit einer Augenscheinseinnahme außerhalb der Hauptverhandlung beauftragen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2578035

NStZ-RR 2008, 315

StRR 2007, 267

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