Leitsatz (amtlich)

Zum Nachweis der Unabwendbarkeit und zur Haftungsquote bei unfallursächlicher Überschreitung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h (in einzelfallbezogener Abgrenzung zu OLG Hamm Urt. v. 17.5.2022 - 7 U 68/21).

 

Normenkette

StVG §§ 7, 17 Abs. 2-3; StVO § 7 Abs. 5

 

Verfahrensgang

LG Siegen (Aktenzeichen 1 O 265/16)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 2.6.2017 verkündete Urteil der Einzelrichterin des Landgerichts Siegen (Az. 1 O 265/16) wie folgt abgeändert:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 9.820,34 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23.6.2015 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 745,40 EUR zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits 1. Instanz tragen die Klägerin 20 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 80 %. Von den Kosten des Rechtsstreits 2. Instanz tragen die Klägerin 60 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 40 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

 

Gründe

Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Verkehrsunfall, der sich am 0.0.2015 gegen 18.30 Uhr auf der BAB 45 in Fahrtrichtung A bei Kilometer 104,2 auf der Höhe der Raststätte B ereignet hat.

Der Zeuge C befuhr mit dem VW T 5 Transporter, amtliches Kennzeichen ...-* 0, der Klägerin die linke Fahrspur der zweispurigen Autobahn. Dabei fuhr er jedenfalls schneller als die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h.

Der Beklagte zu 2) fuhr mit dem von der Beklagten zu 1) gehaltenen und bei der Beklagten zu 3) versicherten LKW, amtliches Kennzeichen +-~ 0, auf der rechten Fahrspur mit einer Geschwindigkeit von ca. 80 - 85 km/h.

Im Bereich der Einfädelungsspur von der Raststätte zog der Beklagte zu 2) aus zwischen den Parteien streitigen Umständen nach links auf die Überholspur. Der Zeuge C bremste den T 5, konnte eine Kollision aber nicht mehr verhindern. Sein Fahrzeug wurde im Frontbereich erheblich beschädigt. Die Klägerin macht einen Gesamtschaden in Höhe von 12.275,42 EUR geltend, dessen einzelne Positionen in der Berufungsinstanz nicht mehr streitig sind.

Erstinstanzlich haben die Parteien darüber gestritten, ob der Unfall für die Beteiligten unabwendbar gewesen und ob der Zeuge C dem Beklagte zu 2) schuldhaft aufgefahren sei. Die Beklagten haben u.a. behauptet, dass ein unbekannt gebliebener Unfallbeteiligter mit seinem Sattelzug plötzlich und unerwartet von der Einfädelungsspur auf die rechte Fahrspur der Autobahn gewechselt sei, so dass der Beklagte zu 2) auf die linke Fahrspur habe ausweichen müssen. In der 2. Instanz stehen diese Dinge nicht mehr im Streit.

Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 12.275,42 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 23.6.2015 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 805,20 EUR zu zahlen.

Die Beklagten haben Klageabweisung beantragt.

Zum weiteren Sachverhalt wird gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen.

Das Landgericht Siegen hat den Beklagten zu 2) angehört und Beweis durch uneidliche Vernehmung der Zeugen C und D sowie durch Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens des Sachverständigen E erhoben.

Anschließend hat es der Klage vollumfänglich stattgegeben. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass der Unfall für beide Parteien kein unabwendbares Ereignis gewesen sei. Der Zeuge C sei jedenfalls mit einer Geschwindigkeit von 140 km/h gefahren. Nach den Feststellungen des Sachverständigen E unter nachvollziehbarer und gut begründeter Auswertung der Angaben der Zeugen C und D wäre auch eine Geschwindigkeit von 170 km/h denkbar. Darüber hinaus habe der Sachverständige festgestellt, dass der Unfall für die Klägerseite bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 130 km/h vermeidbar gewesen sei.

Ebenso wenig sei der Unfall für den Beklagten zu 2) unabwendbar gewesen.

Im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 2 StVG könne kein Verursachungsanteil auf Klägerseite festgestellt werden. Der Anscheinsbeweis zulasten des Zeugen C greife nicht. Der Sachverständige habe nicht feststellen können, ob sich der Zusammenstoß im Zuge des Ausschervorgangs des LKW oder während der Parallelfahrt auf der Autobahn ereignet habe. Das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit begründe keinen Verkehrsverstoß. Demgegenüber habe der Beklagte zu 2) gegen § 7 Abs. 5 StVO verstoßen, weil er den Fahrstreifen gewechselt habe, ohne das Herannahen des klägerischen Fahrzeugs ausreichend zu berücksichtigen. Er habe den Unfall allein verursacht.

Darüber hinaus sei es nicht geboten, auf Klägerseite eine Betriebsgefahr anzunehmen. Das Fahren auf der Autobahn mit einer Geschwindigkeit oberhalb der Richtgeschwindigkeit sei sanktionslos möglich. Eine Betriebsgefahr auf Seiten desjenigen, der mit höherer Geschwindigkeit als der Richtgeschwindigkeit gefahren sei, könne daher nur angenommen werden, wenn Anh...

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