Verfahrensgang

AG Recklinghausen (Aktenzeichen 42 F 188/22)

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Jugendamtes wird der am 30.3.2023 erlassene Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Recklinghausen abgeändert.

Es wird festgestellt, dass die elterliche Sorge für den Minderjährigen G. P. A., geb. 00.00.2005, ruht.

Es wird Vormundschaft angeordnet. Zum Vormund wird das Jugendamt der Stadt Herten bestellt.

Für das Verfahren in beiden Instanzen werden Gerichtskosten nicht erhoben und die Erstattung außergerichtlicher Kosten nicht angeordnet.

Der Wert für das Verfahren wird auf 4.000,00 EUR festgesetzt.

 

Gründe

A. Mit Antrag vom 5.12.2022 hat das Jugendamt mitgeteilt, dass es den Jugendlichen G. P. A., geb. 00.0.2005, in Obhut genommen habe, und beantragt, das Ruhen der elterlichen Sorge festzustellen und das Jugendamt als Amtsvormund zu bestellen. Zur Begründung hat es vorgetragen:

G. stamme aus Afghanistan. Seine Eltern - N. A., geb. 1971, und F. A., geb. 1964, würden sich nach wie vor in Kabul aufhalten. G. sei im Mai 2022 vor den Taliban aus Afghanistan geflohen und über den Iran, Bulgarien, Serbien, Ungarn, Österreich, die Schweiz und Frankreich nach Deutschland gelangt. Er sei zunächst vom Jugendamt Bochum vorläufig in Obhut genommen worden. Dieses habe auch die Minderjährigkeit festgestellt. Am 28.11.2022 sei G. dem Jugendamt Herten zugewiesen und von diesem am 2.12.2022 in Obhut genommen worden. G. habe einen Cousin in O.. Zu den Kindeseltern habe er unregelmäßig Kontakt über WhatsApp.

Während des Verfahrens verzog G. von B. nach Q. und wohnt dort im Wohnverbund D..

Das Familiengericht hat G. und das Jugendamt am 30.3.2023 persönlich angehört. Hierbei hat G. angegeben, er habe einmal pro Woche, manchmal auch nur alle zwei Wochen per WhatsApp Kontakt zu seinen Eltern. Manchmal sei es etwas schwierig, diese zu erreichen, in der Regel gehe dies aber.

Mit der angefochtenen Entscheidung hat das Familiengericht den Antrag des Jugendamts, das Ruhen der elterlichen Sorge festzustellen, zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Es fehle an einem tatsächlichen Hindernis für die Ausübung der elterlichen Sorge. Hierfür genüge die physische Abwesenheit der Eltern nicht, wenn diese auch durch dritte Hilfskräfte ihr Kind gut versorgt wüssten und auf der Grundlage moderner Kommunikationsmittel oder Reisemöglichkeiten auch aus der Ferne Einfluss auf die Ausübung der elterlichen Sorge nehmen könnten. Dies sei vorliegend der Fall, wie die Anhörung des Kindes ergeben hätte. Allein, dass ein Feststellen des Ruhens die Arbeit des Jugendamtes vereinfache oder dort keine Kapazitäten für die Entgegennahme von Vollmachten bestünden, könne einen derart massiven Eingriff in die elterlichen Rechte nicht rechtfertigen und helfe auch über das Fehlen von tatbestandlichen Voraussetzungen nicht hinweg.

Auch der Umstand, dass die Kindeseltern aufgrund ihres tatsächlichen Aufenthaltes im Ausland keine Hilfen zur Erziehung beantragen könnten, führe zu keiner anderen Bewertung. Die fehlende Antragsmöglichkeit stelle kein tatsächliches Hindernis dar. Zudem sei durch die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII sichergestellt, dass das Jugendamt das Wohl des Kindes hinreichend wahrnehmen könne. Im Rahmen der Inobhutnahme habe das Jugendamt auch Leistungen aus dem Katalog des § 2 Abs. 2 SGB VIII anzubieten. Dass eine Inobhutnahme grundsätzlich nur eine vorläufige Maßnahme sei, führe zu keiner anderen Bewertung. Eine zeitliche Schranke für die Inobhutnahme sehe § 42 SGB VIII nicht vor. Diese ende mit der Übergabe des Minderjährigen an die Erziehungsberechtigten oder aber mit einer Entscheidung über die Gewährung von Hilfe nach dem SGB. Es obliege dem Jugendamt, den Sachverhalt aufzuklären und, falls möglich, eine geeignete Lösung für das Kind zu suchen.

Mit seiner Beschwerde verfolgt das Jugendamt in erster Linie sein erstinstanzliches Begehren weiter, das Ruhen der elterlichen Sorge festzustellen, hilfsweise eine Entscheidung nach § 1666 BGB. Es trägt vor: Entgegen der Auffassung des Familiengerichts seien die Voraussetzungen des § 1674 BGB erfüllt. Nach der Machtergreifung der Taliban seien die politischen Verhältnisse in Afghanistan schwierig und stünden der effektiven Ausübung des notwendigen erzieherischen Einflusses entgegen. Im Kindeswohlinteresse müsse der Kontakt verlässlich sichergestellt sein, so dass auch sofortige Entscheidungen im Interesse des Kindes möglich seien. Dies sei im Falle der Eltern von G. aufgrund der instabilen politischen Verhältnisse und des weitgehend unmöglichen Grenzverkehrs nicht der Fall. Vielmehr sei ein Kontaktabbruch jederzeit zu befürchten.

Entgegen der Auffassung des Familiengerichts sei das Jugendamt auch nicht aufgrund der Inobhutnahme in Bezug auf Hilfen nach § 2 Abs. 2 SGB VIII handlungsfähig. Anspruchsinhaber nach § 27 ff. SGB VIII sei der Personensorgeberechtigte. Den Eltern könnten entsprechende Hilfe nicht gewährt werden, da diese ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Deutschland hätten (§ 6 Abs. 2 SGB VIII).

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