Entscheidungsstichwort (Thema)

Beachtung des Elternrechts bei Entscheidungen nach § 1666 BGB

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Auslegung des Begriffs des Kindeswohls gem. §§ 1666, 1666a BGB ist, wie sich aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ergibt, ein Vorrang des Erziehungsrechts der Eltern zu berücksichtigen, in das der Staat nur im Rahmen seines Wächteramtes und nur unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - insbesondere wenn es um die Trennung des Kindes von seinen leiblichen Eltern geht - eingreifen darf. Vor diesem Hintergrund muss das elterliche Fehlverhalten oder Versagen gegenüber dem Kindeswohl eine gewisse Evidenz aufweisen.

2. Insbesondere gehört es nicht zum staatlichen Wächteramt, für eine den Fähigkeiten des Kindes bestmögliche Förderung zu sorgen; vielmehr gehören die Eltern und deren sozioökonomische Verhältnisse grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes. Das Kind hat keinen Anspruch auf "Idealeltern" und eine optimale Förderung und Erziehung, so dass sich das staatliche Wächteramt auf die Abwehr von Gefahren für das Kindeswohl beschränkt.

3. Einer Gefährdung des Kindeswohls durch einen Wechsel des Kindes aus dem Haushalt seiner Pflegeeltern in den Haushalt der Kindesmutter wird hinreichend durch eine zu befristende Verbleibensanordnung gem. § 1632 Abs. 4 BGB entgegengewirkt.

4. Bei der Einschätzung, ob das Kindeswohl eines 4-jährigen Kindes gefährdet wird, kann nicht außer Betracht bleiben, dass die Kindesmutter bisher ihr am 2.8.2010 geborenes weiteres Kind betreut und versorgt hat und das Jugendamt auf ausdrückliche Nachfrage erklärt hat, dass es insoweit ein Eingreifen nicht für erforderlich halte.

5. Zur Beteiligung des leiblichen Vaters des Kindes an dem Verfahren.

 

Normenkette

BGB § 1632 Abs. 4, §§ 1666, 1666a, 1680 Abs. 2 S. 2; GG Art. 6 Abs. 2 S. 1; EMRK Art. 8

 

Verfahrensgang

AG Steinfurt (Beschluss vom 20.12.2010; Aktenzeichen 30 F 66/10)

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin (Kindesmutter) wird der am 20.12.2010 erlassene Beschluss des AG -Familiengericht-Steinfurt abgeändert.

Der Antrag des antragstellenden Kreisjugendamtes T, der Kindesmutter die elterliche Sorge für den am 1.4.2007 geborenen N M zu entziehen, wird zurückgewiesen.

Es wird angeordnet, dass das betroffene Kind bis zum 30.6.2013 in seiner jet-zigen Pflegefamilie verbleibt.

Gerichtskosten werden für beide Instanzen nicht erhoben.

Seine außergerichtlichen Kosten trägt jeder Beteiligte selbst.

Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3000 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Das Jugendamt verfolgt im vorliegenden Verfahren das Begehren, der am 16.5.1991 geborenen Antragsgegnerin das Sorgerecht für ihr nicht in einer Ehe geborenes Kind N M, geboren am 1.4.2007, zu entziehen. Vater des Kindes ist Herr C, mit dem die Kindesmutter ab ihrem 14. Lebensjahr bis Anfang 2008 befreundet war. Herr C lebt inzwischen in C3 und hat weder zu seinem Sohn N noch zur Kindesmutter Kontakt. Das Sorgerecht für N wurde allein von der Kindesmutter ausgeübt.

Die Antragsgegnerin hat bis zu ihrer Einschulung bei ihren Eltern gelebt, die sich dann jedoch haben scheiden lassen. In der Folgezeit lebte sie zunächst bei ihrer Mutter und hatte zunächst alle 2 Wochen Umgang mit ihrem Vater. Diese Umgangskontakte schliefen schließlich für einen Zeitraum von ca. 5-6 Jahren vollständig ein. Erst mit 13 Jahren nahm sie wieder Kontakt zu ihrem Vater auf und zog im Alter von 14 Jahren - da es mit dem neuen Freund ihrer Mutter zu Schwierigkeiten kam - ganz zu ihrem Vater. Aber auch dort kam es zu Problemen mit der damaligen Freundin ihres Vaters, so dass sie noch einmal zu ihrer Mutter zurückzog. Nach einiger Zeit kam es jedoch wiederum zum Zerwürfnis mit dieser; sie zog endgültig aus der Wohnung ihrer Mutter aus und hielt sich in der Folgezeit zunächst in I auf. Da ihre Mutter eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte, wurde sie dort von der Polizei aufgegriffen und hielt sich anschließend bei ihrem Vater auf. Dort stellte sich heraus, dass sie schwanger war. Unter diesen Umständen wollte ihr Vater sie jedoch nicht auf Dauer bei sich behalten, so dass sie sich schließlich während ihrer Schwangerschaft mit N am 20.2.2007 in eine stationäre Mutter-Kind-Einrichtung des M1-Jugendheims U2 begab, da sie sich nicht in der Lage sah, ohne stationäre Unterstützung die Betreuung und Versorgung ihres Sohnes sicherzustellen. In dieser Einrichtung erwarb sie auch den Hauptschulabschluss und begann eine schulische Ausbildung zur Sozialhelferin, die sie jedoch in Folge ihres Aufenthaltsabbruches in der Mutter-Kind-Einrichtung nicht mehr abschließen konnte. Bis zum 10.2.2009 hielt sie sich in einer Einrichtung in J auf; im Zuge einer Verselbständigungserprobung wechselte sie von dort aus gemeinsam mit ihrem Sohn in ein Apartment der M1-Kleinsteinrichtung für Mütter und ihre Kinder in J. Der Betreuungsverlauf war während dieser Zeit jedoch immer wieder durch Überforderungssituationen der Kindesmutter gekennzeichnet. Sie geriet in Krisen, welche sich durch Vernachläss...

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