Entscheidungsstichwort (Thema)

Verjährungshemmung für Opfer von Sexualdelikten

 

Leitsatz (amtlich)

Hatte ein Opfer von Sexualdelikten beim In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts das 18., aber noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet, so wurde beginnend mit dem Stichtag (1.1.2002) die bis dahin laufende Verjährung der Schadensersatzansprüche bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gehemmt.

 

Normenkette

BGB § 208 S. 1 n.F.; EGBGB Art. 229 § 6 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Münster (Beschluss vom 16.01.2006; Aktenzeichen 15 O 531/05)

 

Tenor

Der angefochtene Beschluss wird abgeändert.

Der Klägerin wird Prozesskostenhilfe ohne Anordnung von Ratenzahlungen bewilligt.

Ihr wird Rechtsanwältin Grohmann in Münster beigeordnet.

Die Entscheidung ergeht gebührenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

 

Gründe

I. Die am 23.9.1982 geborene Klägerin wurde vom Beklagten - ihrem damaligen Stiefvater - in einem Zeitraum von mehreren Jahren, der sich bis Anfang Mai 1997 hinzog, in einer Vielzahl von Einzelfällen sexuell missbraucht. Das LG Münster (1 KLs - 53 Js 351/01 - 30/02) verurteilte den Beklagten deswegen am 18.3.2003 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Jahren. Die Entscheidung wurde durch Beschluss des BGH vom 7.1.2004 rechtskräftig. In dem Strafverfahren sah das Gericht von einer Entscheidung über den am 17.3.2003 gestellten Adhäsionsantrag der Klägerin ab.

Diese beantragte am 9.11.2005 Prozesskostenhilfe für eine Klage, mit der sie den Beklagten auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 15.000 EUR in Anspruch nehmen will.

Durch den angefochtenen Beschluss hat das LG den Antrag mit der Begründung zurückgewiesen, der Schmerzensgeldanspruch sei verjährt; der Klägerin komme insb. nicht die Neuregelung der Verjährungshemmung für Opfer von Sexualdelikten in § 208 BGB n.F. (Hemmung der Verjährung bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres) zugute, denn das neue Recht könne nur für Hemmungstatbestände gelten, die zum 1.1.2002 noch nicht abgeschlossen gewesen seien; die zunächst bestehende Hemmung gem. §§ 852, 204 BGB a.F. habe aber mit der Vollendung des 18. Lebensjahres der Klägerin am 23.9.2000 ihr Ende gefunden.

II. Die sofortige Beschwerde, mit der die Klägerin ihren Prozesskostenhilfeantrag weiterverfolgt, ist zulässig und hat in der Sache Erfolg.

1. Der Schmerzensgeldanspruch der Klägerin beruht auf §§ 823, 847 Abs. 2 BGB. Die Verjährungsfrist beträgt nach den insoweit übereinstimmenden Regelungen in § 852 BGB a.F., § 195 BGB n.F. drei Jahre. Ihr Lauf war anfangs ensprechend § 204 BGB a.F. bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres der Klägerin am 23.9.2000 gehemmt. Sie lief dann für 14 Monate und eine Woche, bis am 1.1.2002 die neuen Verjährungsvorschriften des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes (SMG) in Kraft traten. Dazu gehörte auch die neue Vorschrift des § 208 S. 1 BGB n.F., nach der die Verjährung von Ansprüchen wegen der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres des Gläubigers gehemmt ist.

Entgegen der dem angefochtenen Beschluss zugrunde liegenden Auffassung kommt die Neuregelung der Klägerin zugute.

Das intertemporale Verjährungsrecht des SMG ist in Art. 229 § 6 EGBGB geregelt. Gemäß Abs. 1 S. 1 dieser Vorschrift sind grundsätzlich die neuen Verjährungsregeln auf alle Ansprüche anzuwenden, die am Stichtag (1.1.2002) bestanden haben und - wie hier - noch nicht verjährt waren. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz enthält das in Abs. 1 S. 2 dieser Vorschrift niedergelegte Stichtagsprinzip, das für den Verjährungsbeginn, die Hemmung, die Ablaufhemmung und den Neubeginn der Verjährung gilt. Es besagt,

  • dass vor dem Stichtag abgeschlossene Tatbestände dem alten Recht unterliegen,
  • dass dann, wenn tatbestandsrelevante Umstände zeitlich über den Stichtag hinausreichen, ihre Folgen ab dem 1.1.2002 dem neuen Recht unterliegen,
  • dass Tatbestände, die vollständig nach dem Stichtag verwirklicht werden, ebenfalls dem neuen Recht unterliegen und
  • dass neu geschaffene, dem alten Recht unbekannte Hemmungsgründe erst ab diesem Zeitpunkt dazu führen, dass der Ablauf der Verjährung hinausgeschoben wird (vgl. Heß, NJW 2002, 253 [257], unter IV 2; Grothe in MünchKomm/BGB, 4. Aufl., 2006, Art. 229 § 6 EGBGB Rz. 6).

Um einen Fall der letztgenannten Art handelt es sich hier, denn die in § 208 S. 1 BGB n.F. getroffene Regelung hat im alten Recht keine Entsprechung, insb. nicht in § 204 BGB a.F., wo - ähnlich wie in der Neuregelung des § 207 BGB n.F. - die Hemmung der Verjährung aus familiären oder ähnlichen Gründen geregelt war. Die Hemmungsregelung in § 208 S. 1 BGB n.F. hebt dagegen unabhängig von familiären Beziehungen allein auf das Alter des Opfers einer Tat ab, durch die die sexuelle Selbstbestimmung verletzt worden ist. Damit handelt es sich um einen neuen, dem alten Recht unbekannten Hemmungsgrund.

Die Auslegung der Neuregelung anhand des Normzweckes (Opferschutz, vgl. BT-Drucks. 14/1752, 181) ergibt, dass auch nach altem Recht entstandene und noch nicht verjährt...

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