Leitsatz (amtlich)

Eine umfassende Einsicht in die Verfahrensakten ist dem Verletzten in aller Regel in solchen Konstellationen zu versagen, in denen seine Angaben zum Kerngeschehen von der Einlassung des Angeklagten abweichen und eine Aussagegegen-Aussage-Konstellation vorliegt.

 

Normenkette

StPO § 406e Abs. 1, 2 S. 2

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Angeklagten wird die Verfügung des Strafkammervorsitzenden vom 29. September 2014 mit der Maßgabe aufgehoben, dass den Beiständen der Nebenklägerinnen C und S jeweils Akteneinsicht in folgende Bestandteile der Verfahrensakten gewährt wird:

Leitakte I

Leitakte II

Leitakte III

Fallakte I

1- 5

181-182

368-378

6-19

8-23

219-220

381-422

68-72

25-66

223-245

429-432

141-162

131-180

250-251

440-442

165-179

255-262

444-446

183-187

267-288

449-454

194-196

292-317

456-537

199-226

318-320

322-367

Die weitergehende Beschwerde wird verworfen.

 

Gründe

I.

Dem Beschwerdeführer wird durch die zur Hauptverhandlung zugelassene Anklageschrift vorgeworfen, in Hamburg in den Jahren 2013 und 2014 drei Frauen vergewaltigt zu haben (§ 177 Abs. 2 StGB). Zwei der mutmaßlichen Tatopfer haben sich dem Verfahren als Nebenklägerinnen angeschlossen und durch die ihnen bestellten anwaltlichen Nebenklagevertreter jeweils Akteneinsicht beantragt. Dem hat der Strafkammervorsitzende mit der in der Beschlussformel benannten Entscheidung in vollem Umfang entsprochen. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde und einem hiermit verbundenen Antrag nach § 307 StPO. Er macht den Versagungsgrund nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO geltend. Da er den Geschlechtsverkehr mit diesen beiden Nebenklägerinnen objektiv gestanden und - insoweit abweichend von den Aussagen der Nebenklägerinnen im Ermittlungsverfahren - jeweils einen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr angegeben habe, stehe in beiden Fällen Aussage gegen Aussage. Dies rechtfertige eine vollständige Versagung der Akteneinsicht. Die Generalstaatsanwaltschaft ist dem entgegen getreten und hat die Verwerfung des Rechtsmittels beantragt.

II.

Die Beschwerde ist zulässig und in der Sache zum überwiegenden Teil begründet.

1. Das Rechtsmittel ist statthaft.

a) Die Entscheidung über die Aktensicht des Verletzten nach § 406e Abs. 1 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 StPO ist nach Eröffnung des Hauptverfahrens entsprechend § 406e Abs. 4 Satz 4 StPO mit der Beschwerde anfechtbar (§ 304 StPO). Dem steht § 305 Satz 1 StPO mangels Verweisung in § 406e Abs. 4 Satz 3 StPO nicht entgegen (vgl. nur Lauterwein, Akteneinsicht und -auskünfte für den Verletzten, Privatpersonen und sonstige Stellen §§ 406e und § 475 StPO [2011], S. 161; Löwe/Rosenberg/Wenske, 26. Aufl., Nachtr. § 406e Rn. 8).

b) Der Angeklagte ist auch beschwerdebefugt.

aa) Zwar folgt das notwendige Rechtsschutzbedürfnis hier nicht aus übergangenen schutzwürdigen Interessen des Beschwerdeführers im Sinne des § 406e Abs. 2 Satz 1 StPO. Schutzwürdig im Sinne dieses Versagungstatbestandes sind etwa persönlichkeitsrechtliche Interessen im weitesten Sinne aber auch wirtschaftliche oder vermögensrechtliche Interessen, namentlich zum Schutz von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen (vgl. nur Löwe/Rosenberg/Hilger, 26. Aufl., § 406e Rn. 9). Solche Belange sind hier weder ersichtlich noch durch den Beschwerdeführer vorgebracht worden.

bb) Ein Angeklagter kann in seinen Rechten aber durch eine den Untersuchungszweck gefährdende Akteneinsicht eines Nebenklägers betroffen sein und mithin den Versagungsgrund des § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO für sich reklamieren. Die unbeschränkte Akteneinsicht eines Nebenklägers kann im Einzelfall nämlich mit den höchstrichterlichen Grundsätzen der Beweiswürdigung, die sich namentlich aus der freiheitssichernden Funktion der Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 20 Abs. 3 und Art. 104 Abs.1 GG ergeben, unvereinbar sein und sich insoweit als mögliche Rechtsverletzung für den Angeklagten erweisen (vgl. nachstehend 2.bb).

cc) So liegt es hier. Soweit der Angeklagte eine Einvernehmlichkeit der ihm zur Last gelegten sexuellen Handlungen zum Nachteil der beiden Nebenklägerinnen C und S vorgibt, steht Aussage gegen Aussage. Damit greifen besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung und Beweiserhebung, die durch die Akteneinsicht beider Nebenklägerinnen zumindest eine für das Rechtsschutzbedürfnis zureichende Möglichkeit einer Rechtsverletzung des Angeklagten begründen könnten (vgl. nachstehend 2.bb).

2. Das Rechtsmittel hat in der Sache überwiegend Erfolg.

Zwar steht beiden Nebenklägerinnen grundsätzlich nach § 406e Abs. 1 Satz 1 StPO über ihren Rechtsanwalt auch ohne Darlegung eines berechtigten Interesses Aktensicht zu (vgl. § 406e Abs. 1 Satz 2 StPO). Dieses Recht war hier indes in weiten Teilen nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO zu versagen. Hiernach kann die Akteneinsicht des Berechtigten versagt werden, soweit der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Verfahren, gefährdet erscheint.

a) Der Untersuchungszweck im Sinne dieses gesetzlichen Versagungsgrundes ist gefährdet, wenn durch die Aktenkenntnis des Verletzten eine...

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