Entscheidungsstichwort (Thema)

Haftung eines flüchtenden Schwarzfahrers

 

Leitsatz (amtlich)

Haftung und Mitverschulden, wenn ein flüchtender Schwarzfahrer einen Dritten verletzt, der ihn aufzuhalten versucht.

 

Verfahrensgang

LG Gießen (Urteil vom 18.08.2015; Aktenzeichen 2 O 190/15)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des LG Gießen vom 18.08.2015 - Az.: 2 O 190/15 - teilweise abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 5.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2015 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtlichen zukünftigen materiellen Schaden zu ersetzen, die ihm aus dem Unfall vom ...2014 entstehen wird, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergehen.

Der Beklagten wird weiterhin verurteilt, an den Kläger 1.184,05 EUR zu zahlen.

Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.

Die weiter gehende Berufung wird zurückgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 70 % und der Beklagte 30 % zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der Kläger hat von dem Beklagten Schadensersatz wegen Körperverletzung verlangt.

Der Beklagte war am ... 2014 von dem Polizeioberkommissar A in einem Zug von Stadt1 Hauptbahnhof nach Stadt2 Hauptbahnhof vorläufig festgenommen worden, weil er keine Fahrkarte vorweisen und sich nicht zu seiner Person ausweisen konnte. Im Hauptbahnhof Stadt2 führte der Polizeibeamte den Beklagten in Richtung der dortigen Wachstation der Bundespolizei. Kurz vor Erreichen der Wachstation riss sich der Beklagte los und rannte den Bahnsteig entlang davon. Der Kläger, der ebenfalls Fahrgast des Zuges gewesen war, stand etwa einen Meter von der Bahnsteigkante entfernt. Als er den Beklagten heranlaufen sah, stellte er sich ihm in den Weg. Dadurch kam es zu einem Zusammenstoß beider, wodurch sie über die Bahnsteigkante in das Gleisbett stürzten. Der Kläger erlitt dabei erhebliche Verletzungen.

Mit der Klage hat der Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 15.000 EUR, ferner die Feststellung der Schadensersatzpflicht des Beklagten sowie die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verlangt.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Verletzung sei dem Beklagten bereits in objektiver Hinsicht nicht zurechenbar. Nach den Maßstäben für die sog. Verfolgungsfälle fehle es daran, dass der Kläger sich zu seinem Verhalten herausgefordert fühlen durfte. Wesentlicher Gradmesser für die Überbürdung des Risikos der Verletzung des Verfolgers auf den Herausforderer sei eine angemessene Mittel-Zweck-Relation. Sei dabei die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt, so falle eine Körperverletzung desjenigen, der - wie hier der Kläger - eine Selbstgefährdung vornehme, nicht mehr in den Schutzbereich der Haftungsnorm. Insbesondere sei das Verhalten des Klägers nicht durch das Jedermann-Festnahmerecht (§ 127 StPO) gedeckt gewesen. Der Beklagte sei durch den Polizeibeamten A bereits festgenommen gewesen. Abgesehen davon scheitere eine angemessene Mittel-Zweck-Relation auch daran, dass die vom Kläger verursachte Gefahr für Leib und Leben beider Beteiligten zu dem allenfalls in Betracht kommenden Vergehen des Beklagten völlig außer Verhältnis gestanden habe. Aufgrund des schnellen Laufs des Beklagten und der "Rugby-Bewegung" des Klägers habe erkennbar die naheliegende Gefahr der späteren Entwicklung bestanden, die ohne weiteres für beide hätte tödlich enden können. Eine zusätzliche Einordnung des Verhaltens des Beklagten unter § 113 StGB ändere an dieser Bewertung nichts. Schließlich habe der Beklagte die Verletzung des Klägers auch nicht verschuldet. Der Beklagte habe nicht einmal fahrlässig gehandelt. So sei nicht vorhersehbar gewesen, dass sich der Kläger ihm in der genannten Weise in den Weg stellen würde. Wegen des Sach- und Streitstandes in erster Instanz, der vom LG festgestellten Tatsachen sowie der Begründung im Einzelnen wird auf die angefochtene Entscheidung verwiesen (Bl. 102-108 d.A.).

Gegen das am 21.09. 2015 zugestellte Urteil hat der Kläger am 30.09.2015 Berufung eingelegt und das Rechtsmittel am 14.10.2015 begründet. Der Kläger hält an seiner Ansicht fest, dass sein Verhalten, sich dem Beklagten in den Weg zu stellen, durch § 127 Abs. 1 StPO gedeckt gewesen sei. Sein Festnahmerecht scheitere nicht daran, dass der Beklagte bereits von dem Polizeibeamten A festgenommen worden war. Indem sich der Beklagte dem Polizeibeamten entrissen habe, habe er den Tatbestand des § 113 Abs. 1 S. 1 StGB verwirklicht. Dieser Fluchtversuch stelle eine Zäsur gegenüber dem vorherigen Geschehen dar und damit eine neue "frische Tat" i.S.d. § 127 Abs. 1 StPO. Der Beklagte habe ferner vorsätzlich gehandelt, indem er mit großer Wucht auf ihn (Kläger) zu gerannt sei, so dass er mit ihm zusammengeprallt sei und beide in die Rückhalteeinrichtungen des Gleisbetts gefallen seien. Der Beklagte habe es billigend in K...

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