Entscheidungsstichwort (Thema)

Pflichtverteidigung. Untersuchungshaft

 

Leitsatz (amtlich)

§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO findet nicht nur in dem Verfahren, in welchem die Untersuchungshaft vollzogen wird, sondern auch in allen anderen gegen den Beschuldigten gerichteten Verfahren Anwendung.

 

Normenkette

JGG § 68 Nrn. 1, 5; StPO § 140 Abs. 1 Nr. 4

 

Verfahrensgang

LG Limburg a.d. Lahn (Entscheidung vom 05.02.2010; Aktenzeichen 1 Ns - 4 Js 9403/07)

 

Tenor

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Rechtsanwalt Dr. ..., Stadt1, wird dem Angeklagten für das weitere Verfahren als Pflichtverteidiger beigeordnet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.

 

Gründe

Durch Urteil des Amtsgerichts - Jugendrichter - Limburg vom 23.1. 2008 wurde der Angeklagte des Betruges und der Unterschlagung schuldig gesprochen und die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Mit Urteil vom 02.09.2009 verhängte der Jugendrichter eine Jugendstrafe von 8 Monaten, deren Vollstreckung er zur Bewährung aussetzte. Auf die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Berufung der Staatsanwaltschaft erkannte die 1. kleine Jugendkammer des Landgerichts Limburg am 07.12.2009 auf eine (unbedingte) Jugendstrafe von 6 Monaten. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte über seinen Wahlverteidiger Revision eingelegt, die inzwischen auch begründet wurde.

Mit der Revisionseinlegung hat der Angeklagte zugleich um Bestellung seines Wahlverteidigers zum Pflichtverteidiger für das Revisionsverfahren nachgesucht, weil sich der Angeklagte - was zutreffend ist (vgl. Vermerk des Berichterstatters vom 21.04.2010, Bl. 369 II d.A.) - in anderer Sache, nämlich im Verfahren 3 Js 15211/09 - StA Limburg auf Grund des Haftbefehls vom 03.11.2009 (Bl. 307 II d.A.) in Untersuchungshaft befinde.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Kammervorsitzende die Bestellung abgelehnt, weil § 140 I Nr. 5 StPO einen dreimonatigen Freiheitsentzug vor der letzten tatrichterlichen Hauptverhandlung voraussetze. Hiergegen richtete sich die Beschwerde des Angeklagten, mit der geltend gemacht wird, es liege ein Fall des § 140 II StPO vor.

Das Rechtsmittel ist zulässig (§ 304 I StPO), namentlich ist die Beschwerde nicht dadurch prozessual überholt, dass die Revision bereits begründet ist und über die Bestellung eines Pflichtverteidigers für eine eventuelle Revisionshauptverhandlung gem. § 350 III 1 StPO gesondert zu entscheiden wäre. Denn die Tätigkeit des vom Tatrichter bestellten Pflichtverteidigers umfasst auch eine gegebenenfalls erforderliche Gegenerklärung und Erwiderung auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verwerfung der Revision nach § 349 II StPO bzw. die Verteidigung in einem weiteren Rechtszug nach einer Aufhebung und Zurückverweisung (vgl. Senat, Beschl. v. 11.02.2010 - 3 Ws 117/10).

Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg. Es liegt bereits ein Fall notwendiger Verteidigung nach § 68 Nr. 1 JGG i.V. mit § 140 I Nr. 4 StPO in der seit dem 01.01.2010 geltenden Fassung vor. Danach ist dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger schon dann zu bestellen, wenn gegen ihn Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a StPO vollstreckt wird, was hier seit dem 03.11.2009 der Fall ist. Dass die Untersuchungshaft nicht im vorliegenden Verfahren sondern in einem anderen, oben näheren bezeichneten Verfahren vollzogen wird, ist ohne Bedeutung.

Bereits der Wortlaut der Regelung spricht für diese Auslegung: Es wird ausschließlich die Vollstreckung von Untersuchungshaft als Anknüpfungspunkt für die Erforderlichkeit der Pflichtverteidigung genannt. Aber auch Entstehungsgeschichte, Gesetzessystematik und Sinn und Zweck der Neuregelung sprechen für die genannte Auslegung.

Die durch das Gesetz zur Änderung der Untersuchungshaftrechts vom 29.07.2009 getroffene Neuregelung wurde eingeführt, weil die bisherige Regelung in § 117 IV StPO a.F. und § 140 I Nr. 5 StPO, die eine Pflichtverteidigerbestellung erst nach dreimonatiger Haftdauer vorsahen, mit Blick auf das Gewicht der mit der Untersuchungshaft verbundenen Grundrechtsbeeinträchtigung für unzureichend erachtet wurde (BT-Dr. 16/13097, S. 18, vgl. auch Wohlers, StV 2010, 151, 152). Die damit angesprochene, mit der Freiheitsentziehung notwendig verbundene Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten (vgl. hierzu im Einzelnen Lüderssen/Jahn, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl. § 140 Rn 32) gilt aber nicht nur für das Verfahren, in dem sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet, sondern gleichermaßen auch für weitere anhängige Verfahren.

Für die Vorschrift des §140 I Nr. 5 StPO und für die im Wortlaut bis auf die altersmäßige Einschränkung gleichlautende Vorschrift des § 68 Nr. 4 JGG a.F. bzw. § 68 Nr. 5 JGG n.F. war und ist denn auch anerkannt, dass es für die Verteidigerbestellung nicht darauf ankommt, in welchem Verfahren die Freiheitsentziehung (§ 140 I Nr. 5 StPO), bzw. Untersuchungshaft (§ 68 Nr. 5 JGG) angeordnet ist. Vielmehr ist ausreic...

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