Leitsatz (amtlich)

1. Die für die Durchführung des Versorgungsausgleichs maßgebliche Ehezeit kann bei jahrelanger Aussetzung des Scheidungsverfahrens wegen Versöhnung der früheren Eheleute ausnahmsweise über den Zeitpunkt der Zustellung des ersten Scheidungsantrags hinaus bis zur Zustellung eines "erneuten Scheidungsantrags" andauern (§ 242 BGB; vgl. BGH FamRZ 1986, 335; Abgrenzung zu BGH FamRZ 2004, 1364; FamRZ 2017, 1914).

2. Für den Versorgungsausgleich gilt zwar der Amtsermittlungsgrundsatz, § 26 FamFG; dieser umfasst aber nur die "erforderlichen" Ermittlungen. Die von § 27 VersAusglG geforderte grobe Unbilligkeit des Versorgungsausgleichs stellt einen Ausnahmefall dar, dessen tatsächliche Voraussetzungen zumindest in Form von Anhaltspunkten darzustellen sind, die das Gericht veranlassen können, von Amts wegen Feststellungen darüber zu treffen.

3. Im Fall der kompensationslosen Entziehung eines zum Zwecke der Alterssicherung erworbenen Anrechts aus dem Versorgungsausgleich durch Ausübung des Kapitalwahlrechts entfällt zugleich in demselben Umfang die Grundlage dafür, in umgekehrter Richtung an Anrechten des anderen Ehegatten teilhaben zu dürfen (Anschluss an BGH FamRZ 2015, 998 und FamRZ 2017, 26).

 

Normenkette

BGB § 242; FamFG § 26; FamGKG § 50 Abs. 1; FGG-RG § 111 Abs. 5; VersAusglG § 27

 

Verfahrensgang

AG Frankfurt am Main (Aktenzeichen 35 F 2227/90)

 

Tenor

Unter Zurückweisung der jeweiligen weitergehenden Rechtsmittel wird die angefochtene Entscheidung dergestalt abgeändert, dass im Beschlusstenor unter Zf. II. der 3. Absatz, beginnend mit "Zu Lasten des Anrechts des Antragsgegners...", ersatzlos entfällt.

Im Übrigen bleibt es, auch im Kostenausspruch, bei der angefochtenen Entscheidung.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Antragstellerin und der Antragsgegner jeweils zur Hälfte.

Der Wert des Beschwerdeverfahrens und des Verfahrens erster Instanz für die Folgesache Versorgungsausgleich wird jeweils festgesetzt auf 1.000,- EUR.

 

Gründe

I. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist der Wunsch beider Beschwerdeführer nach einem vollständigen, zumindest aber teilweisen Ausschluss des Ausgleichs der jeweils eigenen Anrechte in der gesetzlichen und der betrieblichen Altersvorsorge bei der Scheidung (§ 27 VersAusglG).

Bei den beiden Beschwerdeführern handelt es sich um frühere Eheleute, die im Jahre 1986 heirateten und 1987 mit notariell beurkundeter Vereinbarung Gütertrennung vereinbarten. Nach erstmaliger Trennung wurde dem Antragsgegner, seinerzeit noch polnischer Staatsangehöriger, ein erster Scheidungsantrag der Antragstellerin am 10.11.1990 unter dem Az. 35 F 2227/90 S des Familiengerichts zugestellt. Mit Schriftsatz ihrer damaligen Bevollmächtigten vom 28.03.1993 beantragte die Antragstellerin bei dem Familiengericht mit der Begründung die Aussetzung des Verfahrens, die Eheleute lebten wieder zusammen. 1996 kam ein gemeinsames Kind zur Welt; im selben Jahr, sodann wieder 2010 und erneut 2016 zogen die Eheleute gemeinsam in jeweils neue Wohnungen um. Spätestens im August 2019 verließ die Antragstellerin schließlich in Trennungsabsicht die letzte gemeinsame Wohnung und stellte noch im selben Monat erneut einen Scheidungsantrag, der dem Antragsgegner unter dem amtsgerichtlichen Az. 468 F 14006/20 S am 03.09.2019 zugestellt wurde. Der Trennungszeitpunkt steht zwischen den Eheleuten allerdings im Streit. Das Familiengericht verband die beiden Verfahren aus den Jahren 1990 und 2019 unter Führung des älteren Aktenzeichens zur gemeinsamen Entscheidung.

Während der Ehezeit erwarb die Antragstellerin Versorgungsanrechte bei der Deutschen Rentenversicherung ..., der ... und der ... plc (...), der Antragsgegner ausschließlich bei der DRV .... Nach den zwischen der ... plc und der Antragstellerin vereinbarten Vertragsbedingungen stand dieser ein Kapitalwahlrecht zu, von dem sie mit Schreiben vom 19.07.2019 an den Versorgungsträger auch Gebrauch machte.

Hinsichtlich des Versorgungsausgleichs vertritt die Antragstellerin die Auffassung, dieser sei zu ihren Gunsten nach § 27 VersAusglG auszuschließen, zumindest aber zu beschränken. Zur Begründung trägt sie vor, der Antragsgegner habe sie ehezeitlich physisch und psychisch misshandelt; sie sei nach Einreichung des ersten Scheidungsantrags lediglich aufgrund des von ihm ausgeübten Drucks zu ihm zurückgekehrt. Tatsächlich hätten die Eheleute aber acht Jahre lang durchgängig getrennt voneinander gelebt. Der Antragsgegner ist dagegen der Ansicht, im Hinblick auf die aus seiner Sicht illoyale Entziehung des Werts des bis zur Ausübung des Kapitalwahlrechts bei der ...plc bestehenden Anrechts der Antragstellerin sei nach § 27 VersAusglG aus Billigkeitsgründen auch von einem Ausgleich seines DRV-Anrechts abzusehen; hinsichtlich des streitigen Trennungszeitpunkts begehrt er die Berücksichtigung einer nicht nur bis zum 31.08.2019 währenden, sondern bis zum 31.08.2020 erstreckten Ehezeit.

Mit Beschluss vom 06.07.2022 schied das Familiengericht die Ehe der beteiligten Eheleute und füh...

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