Leitsatz (amtlich)

Die Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfang ein Kind geimpft werden soll, betrifft keine Angelegenheit des täglichen Lebens i.S.d. § 1687 Abs. 1 S. 2 BGB, sondern eine Angelegenheit, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist (§ 1628 BGB), weil sie mit der Gefahr von Risiken und Komplikationen verbunden ist (Anschluss an KG FamRZ 2006, 142).

Eine Differenzierung zwischen der Zustimmung zur Impfung als Angelegenheit des täglichen Lebens und ihrer Verweigerung als Angelegenheit von erheblicher Bedeutung kommt nicht in Betracht (Ablehnung zu AG Darmstadt NJW-Spezial 2015, 485 = NZFam 2015, 778 m. Anmerkung Luthin).

Bei fehlender Einigung der Eltern kann das Familiengericht gemäß § 1628 BGB zur Herbeiführung der notwendigen Entscheidung einem Elternteil die Entscheidungskompetenz übertragen. Maßgeblich für die Entscheidung ist gemäß § 1697a BGB die Frage, welcher Elternteil am ehesten geeignet ist, eine am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung zu treffen.

 

Normenkette

BGB §§ 1628, 1687, 1697a

 

Verfahrensgang

AG Darmstadt (Beschluss vom 11.06.2015; Aktenzeichen 50 F 39/15 SO)

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des AG - Familiengericht - Darmstadt vom 11.06.2015, Az. 50 F 39/15 SO, mit Ausnahme der Kostenentscheidung und der Wertfestsetzung, die bestehen bleiben, aufgehoben.

Von der Erhebung von Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren wird abgesehen. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten findet nicht statt.

Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3.000,00 EUR festgesetzt.

[... Verfahrenskostenhilfe ...]

 

Gründe

I. Bei der Antragstellerin und dem Antragsgegner handelt es sich um die gemeinsam sorgeberechtigten, getrennt lebenden Eltern der minderjährigen Kinder A. und B., die zumindest derzeit ihren zeitlich überwiegenden Aufenthalt bei der Antragsgegnerin haben. Diese hat bei beiden Jungen bereits mehrere der kinderärztlich empfohlenen Impfungen (u.a. die erste Tetanus-/Diphterie-/Pertussis-Kombinationsimpfung) durchführen lassen. Über die Durchführung weiterer Impfungen (zweite TDP- und Masern-Impfung) bestand zunächst keine Einigkeit zwischen den Kindeseltern.

Die Kindesmutter hatte daraufhin bei dem AG - Familiengericht - Darmstadt beantragt, ihr die Alleinentscheidungsbefugnis hinsichtlich der Durchführung der Impfungen, hilfsweise die Gesundheitssorge für beide Kinder, zu übertragen.

Mit am 11.06.2015 verkündeten Beschluss (veröffentlicht mit Leitsatz und Kurzwiedergabe in NJW-Spezial 2015, 485-486 und NZFam 2015, 778, dort m. Anmerkung Luthin) hat das AG daraufhin unter Zurückweisung des Antrags im Übrigen die Feststellung getroffen, dass der Antragstellerin die alleinige Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der Durchführung der Impfung der beiden Kinder ohnedies zustehe. Begründet wird dies im Wesentlichen damit, dass es sich bei der Entscheidung für die Durchführung der empfohlenen Impfungen - anders als bei der Entscheidung gegen die Impfung - um Angelegenheiten des täglichen Lebens i.S.d. § 1687 Abs. 1 S. 2 BGB handele, über die die Antragsgegnerin alleine entscheiden könne, weil die Kinder sich überwiegend bei ihr aufhielten.

Der Antragsgegner hat gegen die ihm am 15.06.2015 zugestellte Entscheidung mit Schriftsatz vom 03.07.2015, Eingang bei Gericht am 08.07.2015, mit dem Antrag Beschwerde eingelegt, festzustellen, dass die Kindesmutter ohne seine Zustimmung keine Impfungen der Kinder durchführen lassen dürfe und sich zur Begründung zum einen auf von ihm beobachtete negative Folgen der bisher bereits durchgeführten Impfungen, zum anderen auf den Umstand bezogen, dass die Kinder ab dem 15.09.2015 im Rahmen des Wechselmodells gleichmäßig bei beiden Kindeseltern aufenthältlich sein werden und daher für die Anwendung des § 1687 BGB kein Raum mehr sei.

Die Antragstellerin hat beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen, ferner im Wege der Anschlussbeschwerde erneut, ihr die alleinige Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der Durchführung der Impfungen zu übertragen.

Im Anhörungstermin vor dem Einzelrichter vom 01.09.2015 haben sich die Kindeseltern mit ausdrücklicher Zustimmung des Jugendamtes dahingehend geeinigt, dass sie nach Konsultation eines weiteren Kinderarztes künftig einvernehmlich dessen Empfehlungen zu Durchführung und Umfang der Impfungen beider Kinder folgen werden und der erstinstanzliche Beschluss entsprechend abgeändert bzw. aufgehoben werden soll. [... wird ausgeführt ...]

II. Die nach § 58 Abs. 1 FamFG statthafte und gemäß den §§ 59 Abs. 1, 63 Abs. 1, 64 Abs. 1 und 2, 65 Abs. 1 FamFG in zulässiger Weise eingelegte Beschwerde des Kindesvaters führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung in der Sache, denn die beteiligten Kindeseltern sind als gemeinsame Inhaber der elterlichen Sorge für A. und B. nur gemeinsam zur Entscheidung über das Ob und den Umfang der Impfung ihrer Kinder berechtigt, §§ 1626 Abs. 1, 1627, 1631 Abs. 1 BGB.

Der Senat folgt nicht der Auffassung des AG, dass es sich bei dieser Frage um eine Entscheidung in Ange...

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