Entscheidungsstichwort (Thema)

Zu der in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstrittenen sorgerechtlichen Einordnung von Impfentscheidungen der Kindeseltern

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die einem getrennt lebenden Elternteil zustehende Alltagssorge (§ 1687 Abs. 1 S. 2 BGB) umfasst nicht die Befugnis, über die Vornahme oder Nichtvornahme von Schutzimpfungen seines minderjährigen Kindes autonom zu entscheiden. Denn es handelt sich um eine Angelegenheit von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 1628 S. 1 BGB, deren Entscheidung das Familiengericht bei Dissens der Kindeseltern einem Elternteil übertragen kann.

2. Befürwortet ein Elternteil die Durchführung der von der Ständigen Impfkommission der Bundesrepublik Deutschland empfohlenen Schutzimpfungen, indiziert diese Haltung - vorbehaltlich entgegen stehender Umstände des Einzelfalls - seine Eignung, eine kindeswohlkonforme Impfentscheidung (§ 1697a BGB) zu treffen.

 

Verfahrensgang

AG Erfurt (Beschluss vom 28.10.2015; Aktenzeichen 34 F 1498/14)

 

Nachgehend

BGH (Beschluss vom 03.05.2017; Aktenzeichen XII ZB 157/16)

 

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 03.12.2015 wird der Beschluss des AG - Familiengericht - Erfurt vom 28.10.2015 zu Ziff. 1 abgeändert:

Dem Antragsteller wird das Entscheidungsrecht über die Durchführung von Schutzimpfungen des minderjährigen Kindes M. S., geboren am 21.06.2012, hinsichtlich folgender Krankheiten übertragen:

  • Tetanus,
  • Diphterie,
  • Pertussis,
  • Pneumokokken,
  • Rotaviren,
  • Meningokokken C,
  • Masern,
  • Mumps und
  • Röteln.

2. Die weiter gehende Beschwerde der Antragsgegnerin sowie die Beschwerde des Antragstellers vom 04.12.2015 werden zurückgewiesen.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

4. Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.000,- EUR festgesetzt.

5. Die Rechtsbeschwerde gegen diesen Beschluss wird zugelassen.

 

Gründe

I. Die am 21.6.2012 geborene M. S. ist das uneheliche Kind des antragstellenden Kindesvaters und der Antragsgegnerin, bei der sie lebt. Die Eltern üben die elterliche Sorge gemeinschaftlich aus. Uneinigkeit besteht zwischen ihnen hinsichtlich der Notwendigkeit von Schutzimpfungen für ihre Tochter.

Der Antragsteller befürwortet vorbehaltlos die Durchführung altersentsprechender Schutzimpfungen. Er sieht sich im Rahmen der elterlichen Gesundheitssorge verpflichtet, sein Kind grundsätzlich gegen Infektionskrankheiten impfen zu lassen, soweit Schutzimpfungen verfügbar seien und durch die vom Bundesgesundheitsamt eingesetzte ständige Impfkommission (STIKO) empfohlen würden. Es gebe in Deutschland zwar keine gesetzliche Impfpflicht, doch entsprächen die Empfehlungen der STIKO dem medizinischen Standard. Die Kindesmutter sei demgegenüber nicht bereit, selbst lebenswichtige Impfungen mitzutragen.

Der Antragsteller hat daher erstinstanzlich beantragt, ihm die alleinige Gesundheitssorge für M. zu übertragen.

Die Kindesmutter ist dem Antrag entgegen getreten und hat stattdessen die Alleinübertragung der Gesundheitssorge auf sich selbst beantragt.

Sie habe in der Vergangenheit sämtliche Routineuntersuchungen und Akutbehandlungen des Kindes veranlasst und werde auch künftig für deren Vornahme Sorge tragen. Der Vorwurf, sie verweigere sich gesundheitswichtigen Maßnahmen, sei daher unzutreffend. Ihr liege gerade der Schutz M. am Herzen. Unabhängig vom Fehlen einer gesetzlichen Impfpflicht in Deutschland sei ihren Recherchen zufolge der Nutzen präventiv - ohne konkrete Gefahr einer natürlichen Ansteckung - durchgeführter Schutzimpfungen nicht eindeutig nachgewiesen. Vielmehr wiege das Risiko von Impfschäden schwerer als das allgemeine Infektionsrisiko. Nur wenn ärztlicherseits Impfschäden mit Sicherheit ausgeschlossen werden könnten, könne sie daher eine anlass- unabhängige Impfung ihrer Tochter befürworten.

Mit Beschluss vom 28.10.2015, auf dessen Gründe Bezug genommen wird, hat das AG Erfurt dem Antragsteller das Entscheidungsrecht über die Durchführung von Impfungen übertragen und die jeweiligen weiter gehenden Anträge der Eltern zurückgewiesen.

Hiergegen wendet sich die Kindesmutter mit ihrer Beschwerde, mit der sie die Aufhebung der familiengerichtlichen Entscheidungsübertragung beantragt und zugleich ihr erstinstanzliches Ziel der Erlangung der alleinigen Gesundheitssorge weiterverfolgt. Hilfsweise macht sie geltend, die Entscheidung für die Durchführung von Impfungen ihr zu übertragen.

Sie meint, Impfentscheidungen schon deshalb autonom treffen zu dürfen, weil ihr als betreuendem Elternteil auch die Alltagssorge zustehe und diese die gewöhnliche medizinische Versorgung des Kindes einschließe. Ihre kritische Haltung gegenüber Schutzimpfungen gründe im Übrigen auf fundierten Tatsachen. Sie habe sich eingehend über Nutzen und Gefahren informiert und lehne Impfungen nicht generell ab. Sie wolle vielmehr von Fall zu Fall eine Abwägung treffen. So könne sie sich etwa vorstellen, ihre Tochter gegen Röteln impfen zu lassen, falls eine konkrete Ansteckungsgefahr mit erheblichen Folgen bestehe. Gleiches ...

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