Entscheidungsstichwort (Thema)

Begründetes Ablehnungsgesuch wegen Befangenheit einer gerichtlich bestellten Sachverständigen; Verstoß gegen Neutralitätspflicht

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Befangenheit einer gerichtlich bestellten Sachverständigen (hier: Ablehnungsgesuch für begründet erklärt). Die eigenmächtige Ausdehnung des Beweisbeschlusses auf bis dahin im Prozess nicht aufgeworfene Fragen rechtfertigt die Ablehnung des gerichtlich bestellten Sachverständigen insbesondere dann, wenn sich der Sachverständige dabei gleichsam in die Position des Gerichts begibt und einseitig begünstigende Ausführungen macht (hier zugunsten der klagenden Partei).

 

Normenkette

ZPO § 406

 

Verfahrensgang

LG Hannover (Beschluss vom 28.04.2023; Aktenzeichen 17 O 148/21)

 

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Einzelrichters der 17. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 28. April 2023 - 17 O 148/21 - abgeändert:

Die Ablehnung der gerichtlich bestellten Sachverständigen wird für begründet erklärt.

Der Beschwerdewert wird festgesetzt auf 86.850,61 EUR.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Die Beklagte wendet sich mit der sofortigen Beschwerde gegen die Zurückweisung ihres Ablehnungsgesuches in Bezug auf die gerichtlich bestellte Sachverständige. In dem zugrundeliegenden Rechtsstreit begehrt die Klägerin von der Beklagten Ersatz von fiktivem Haushaltsführungsschaden, Pflegekosten sowie fiktiven Schadensersatz von Kosten für einen behindertengerechten Umbau eines PKW aufgrund der gesundheitlichen Folgen eines Verkehrsunfalls der Klägerin im Jahr 2017. Dabei ist unter anderem streitig, ob die Klägerin eine 24-Stunden-Betreuung benötigt. Die Klägerin hat ihrem Anspruch einen Stundensatz von 8 EUR zugrunde gelegt.

Die Kammer hat - ausschließlich - zur Frage, ob die Klägerin eine 24-Stunden-Betreuung benötigt, ein Sachverständigengutachten eingeholt (Beschluss vom 7. November 2022, Bl. 179 d.A.). Das Gutachten ist von der gerichtlich bestellten Sachverständigen am 10. Februar 2023 erstattet worden. Die Sachverständige geht in dem Gutachten - über die gestellte Beweisfrage hinaus - auf die Tages- und Nachtentgelte für die Pflege der Klägerin ein und nimmt konkrete Berechnungen der Pflege- und Haushaltsführungskosten vor. Hierbei orientiert sie sich am gesetzlichen Mindestlohn (S. 50 ff. nebst Tabelle Anlage A des Gutachtens). Bei der Berechnung der Pflege- und Haushaltsführungskosten berücksichtigt die Sachverständige das von der Berufsgenossenschaft an die Klägerin bezahlte Pflegegeld nicht. Die Sachverständige macht zudem Ausführungen zur Anschaffung eines behindertengerechten Fahrzeugs für die Klägerin (S. 38 des Gutachtens).

Mit Verfügung vom 2. März 2023, der Beklagten zugestellt am 10. März 2023, ist den Parteien eine Frist zur Stellungnahme zum Sachverständigengutachten von vier Wochen eingeräumt worden. Die Beklagte hat die Sachverständige mit Schriftsatz vom 20. März 2023 wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Sie ist der Ansicht, die Sachverständige habe den Gutachtenauftrag eigenmächtig und in erheblichem Maße überschritten.

Der Einzelrichter hat durch den angefochtenen Beschluss die Ablehnung für unbegründet erklärt. Eine Überschreitung des Gutachtenauftrags sei "(noch) nicht zu erkennen". Die Monetarisierung der Pflegeleistung sei vom Umfang her nur untergeordnet und diene der Darstellung und Abgrenzung verschiedener Tages- und Nachtentgelte; auf eine Unvoreingenommenheit der Sachverständigen lasse dies nicht schließen. Die Ausführungen zum Fahrzeug stellten bloß den Zustand der hauswirtschaftlichen Versorgung durch den Ehemann dar. Die Nichtberücksichtigung des durch die Berufsgenossenschaft gezahlten Pflegegeldes sei lediglich ein Grund für die Beklagte, konkrete Nachfragen an die Sachverständige zu stellen.

Gegen diesen der Beklagten am 4. Mai 2023 zugestellten Beschluss hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 16. Mai 2023, beim Landgericht Hannover am selben Tag eingegangen, sofortige Beschwerde eingelegt. Die Beklagte meint, die Sachverständige weise die Klägerin darauf hin, sie könne und müsse einen höheren Stundensatz begehren. Die Darlegungen zum behindertengerechten Fahrzeug hätten nichts mit dem Beweisbeschluss zu tun.

Der Einzelrichter hat der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

Der Senat hat der Sachverständigen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben (Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 27. Juni 2023, Bl. 277 f. d.A.). Die Sachverständige hat darauf am 7. Juli 2023 schriftlich Stellung genommen (Bl. 281 d.A.).

II. 1. Die sofortige Beschwerde ist gemäß §§ 406 Abs. 5, 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft und zulässig, insbesondere ist sie innerhalb der zweiwöchigen Frist gem. § 569 Abs. 1 Satz 1 ZPO eingelegt worden.

Ergibt sich der Grund zur Ablehnung eines Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit aus dem Inhalt des schriftlichen Gutachtens, läuft im Allgemeinen die Frist zur Ablehnung des Sachverständigen gleichzeitig mit der...

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