Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Frage der Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren bei nicht erfolgter Herausgabe nicht bei der Akte befindlicher Unterlagen und Daten eines standardisierten Messverfahrens zur Geschwindigkeitsmessung im Bußgeldverfahren. Ordnungswidrigkeitenrecht. faires Verfahren. Zugangsrecht. standardisiertes Messverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Anspruch des Betroffenen auf Zugang zu außerhalb der Akte befindlichen Informationen umfasst neben der ihn betreffenden Falldatei auch den zum Öffnen dieser Datei erforderlichen öffentlichen Schlüssel des Messgeräts.

2. Das Zugangsrecht des Betroffenen auf Messunterlagen erstreckt sich nicht lediglich auf Einsicht in die Unterlagen in den Räumen der Dienststelle des Messbeamten, sondern gebietet eine Übersendung der Unterlagen, wenn kein Beweismittelverlust droht, keine Rechte Dritter betroffen sind und auf Seiten des Betroffenen ein konkretes Bedürfnis für die Übersendung dargelegt wurde.

3. Die Verweigerung der Herausgabe nicht bei den Akten befindlicher Daten berührt den Grundsatz des fairen Verfahrens nur dann, wenn sie erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Dies ist bei den Daten der gesamten Messreihe nicht der Fall.

4. Die fehlende Speicherung von Rohmessdaten steht der Verwertung des Messergebnisses eines standardisierten Messverfahrens nicht entgegen und verletzt den Betroffenen nicht in seinem Recht auf ein faires Verfahren.

 

Normenkette

GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; EMRK Art. 6; StPO §§ 147, 338 Nr. 8, §§ 353, 354 Abs. 2; OWiG §§ 62, 79 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3

 

Verfahrensgang

AG Bremen (Entscheidung vom 24.02.2023; Aktenzeichen 78 OWi 630 Js 76106/21)

 

Tenor

1. Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Bremen vom 24. Februar 2023 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Bremen zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Das Ordnungsamt ... setzte mit Bußgeldbescheid vom 13.10.2021 gegen die Betroffene wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 57 km/h, die diese am 06.08.2021 um 01:45 Uhr in der Gemeinde ..., A1 Höhe Kilometer 104,4 Spur 3 Fahrtrichtung ..., als Führerin des Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen ... begangen haben soll, ein Bußgeld in Höhe von 360,00 € fest und verhängte ein Fahrverbot von einem Monat. Hiergegen legte die Betroffene durch Schriftsatz ihres Verteidigers vom 28.10.2021 Einspruch ein. Zugleich beantragte der Verteidiger umfassende Akteneinsicht unter Beifügung vorhandener und beizuziehender Beweismittel, Unterlagen und Informationen, insbesondere: Fotodokumentation der Betroffenen, Falldatei der Messung der Betroffenen sowie der gesamten Messreihe des Tattages nebst Zusatzdaten, Statistikdatei, Schlüssel (Keyfile), vollständig ausgefüllten Eichscheine und Einbauabnahmen ggf. Nacheichung des Messgeräts, Konformitätsbescheinigung und Konformitätserkärung, Bedienungsanleitung nebst Datum sowie Mitteilung der Softwareversion, vollständige Lebensakte mit Reparaturnachweisen, Informationen über die konkreten Bauteile des Messgeräts, Messprotokoll nebst Anordnung der Messung, Messliste, Ortsskizze/Standortprotokoll und Beschilderungsplan nebst straßenverkehrsrechtlicher Anordnung für die betreffende Beschilderung, Auswertungsprotokoll nebst Mitteilung der Softwareversion, Ausbildungsurkunden und Qualitätsnachweise des Auswertebeamten sowie dessen Bestallungsurkunde.

Das Ordnungsamt ... fügte daraufhin der Akte das Auswerteprotokoll, das Messprotokoll, den Eichschein und einen Wartungsnachweis bei und übersandte einen Ausdruck der elektronisch geführten Akte an den Verteidiger. Mit Schriftsatz vom 19.11.2021 beantragte der Verteidiger erneut die Einsicht in die Beweismittel und stellte mit der Begründung, dass die begehrten Unterlagen/Informationen durch Nichtübersendung verweigert worden seien, einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 62 OWiG. Hilfsweise beantragte er erneut die bereits angeforderten Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Die Betroffene wolle den gegen sie erhobenen Tatvorwurf auf breiter Grundlage prüfen und insbesondere nach etwaigen, allen Messungen anhaftenden, aber der Messung der Betroffenen nicht zu entnehmenden Fehlern suchen, die die Messbeständigkeit des Geräts in Frage stellen könnten, und nach denkbaren, auf einen Umbau oder eine ungewollte Neuausrichtung während des Messbetriebs hindeutenden Veränderungen der Bildausschnitte. Anhand der Falldatei der Messung der Betroffenen sowie den Falldateien der gesamten Messreihe mit Zusatzdaten/Rohmessdaten könnte die Validität der konkreten Messung der Betroffenen z. B. im Hinblick auf Auffälligkeiten oder eine hohe Annulierungsrate überprüft werden. Nur wenn die gesamte Messreihe geprüft werde, könnten z.B. Unregelmäßigkeiten bei der Dateneinblendung, eine hohe Anzahl verworfener Messungen bzw. sonstige Hinweise auf e...

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