Entscheidungsstichwort (Thema)

Anordnung von Auslieferungshaft wegen Fluchtgefahr. Bestehen hinreichend gefestigter familiärer oder sozialer Bindungen. Ausländerrecht. Anordnung von Auslieferungshaft. Fluchtgefahr. hinreichend gefestigte familiäre oder soziale Bindungen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für die Anordnung von Auslieferungshaft wegen Fluchtgefahr bedarf es konkreter Anhaltspunkte, aus denen sich der Schluss ziehen lässt, dass sich die verfolgte Person ihrer Auslieferung eher entziehen als sich für das Verfahren zur Verfügung halten wird. Ausgehend von der Höhe der verhängten Strafe oder Straferwartung ist eine Gesamtbetrachtung der weiteren Umstände vorzunehmen. Gründe für die Annahme der Fluchtgefahr können sich aus dem Auslieferungsersuchen selbst ergeben. Besitzt der Verfolgte im ersuchten Staat hinreichend gefestigte familiäre oder soziale Bindungen kann dies der Annahme von Fluchtgefahr entgegenstehen.

2. Die Annahme von Fluchtgefahr ist nicht schon allein deshalb gerechtfertigt, weil keine Auslieferungshindernisse bestehen und die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet ist, dem Auslieferungsersuchen stattzugeben.

 

Normenkette

IRG § 15 Abs. 1 Nr. 1, § 16

 

Tenor

Der Antrag auf Anordnung der vorläufigen Auslieferungshaft wird abgelehnt.

Der Verfolgte ist unverzüglich zu entlassen.

 

Gründe

I. Die polnischen Justizbehörden ersuchen mit dem Europäischen Haftbefehl vom 16.11.2012 (Az.: III Kop 19/12) um die Auslieferung des Verfolgten nach Polen zum Zwecke der Strafvollstreckung. Nach dem Inhalt des Europäischen Haftbefehls ist er am 22.09.2009 vom Amtsgericht in l. im Strafverfahren II K 242/09 wegen Betruges in vier Fällen und Vereitelns der Zwangsvollstreckung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt worden; von dieser Freiheitsstrafe ist noch nichts vollstreckt worden.

Der Verfolgte wurde am 07.03.2013 aufgrund einer Festnahmeausschreibung im Schengener Informationssystem vorläufig festgenommen. Die polnischen Behörden wurden davon in Kenntnis gesetzt. Am 07.03.2013 hat das Amtsgericht Bremen gegen den Verfolgten eine Festhalteanordnung erlassen. Anschließend wurde er in die Justizvollzugsanstalt [...] eingeliefert. Bei seiner Vernehmung durch den Vorermittlungsrichter hat sich der Verfolgte mit seiner Auslieferung im vereinfachten Verfahren einverstanden erklärt.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat am 07.03.3013 beantragt, gegen den Verfolgten die vorläufige Auslieferungshaft anzuordnen. Hinsichtlich des Haftgrundes hat sie angeführt, der Verfolgte habe in Deutschland keine sozialen Bindungen außer zu seinem 23-jährigen Sohn, der polnischer Staatsangehöriger sei und wie der Verfolgte die deutsche Sprache nicht spreche. Dieser arbeite selbstständig als Trockenbauer und lebe nach dem im Vermerk vom 07.03.2013 wiedergegebenen Eindruck der Polizei Bremen "von der Hand in den Mund". Es sei nicht ersichtlich, was den Verfolgten veranlassen könnte, sich in Deutschland für seine Auslieferung zur Verfügung zu halten, denn hier könnte er ohnehin nicht bleiben, solange die Republik Polen seine Auslieferung begehrt und keine Auslieferungshindernisse bestehen, weil Deutschland dann verpflichtet sei, dem Auslieferungsersuchen stattzugeben.

Am 11.03.2012 hat die Generalstaatsanwaltschaft Bremen dem Senat den Europäischen Haftbefehl vom 16.11.2012 des Bezirksgerichts B. übermittelt.

II. Dem Antrag auf Erlass eines vorläufigen Auslieferungshaftbefehls kann nicht entsprochen werden, weil die für die Anordnung erforderliche Fluchtgefahr nach derzeitigem Stand nicht gegeben ist.

1. Nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG kann gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft angeordnet werden, wenn die Gefahr besteht, dass er sich dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung entziehen werde. Allein die Existenz eines Europäischen Haftbefehls oder einer SIS-Ausschreibung begründet regelmäßig noch keine Fluchtgefahr (Schomburg/Hackner in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsache, 5. Auflage, 2012, § 78 IRG, Rn. 19). Die Beurteilung der Fluchtgefahr richtet sich allein nach innerstaatlichem deutschem Recht (OLG Karlsruhe, NJW 2007, 615, 616). Dabei kommt es - im Gegensatz zu § 112 StPO - zwar nicht auf das Merkmal "aufgrund bestimmter Tatsachen" an, sondern ausschließlich auf die Überzeugung des Gerichts (vgl. OLG Hamm, BeckRS 2009 08020; Hackner in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, aaO., § 15 IRG, Rn. 17). Erforderlich sind allerdings auch insoweit konkrete Anhaltspunkte, aus denen sich der Schluss ziehen lässt, dass sich die verfolgte Person ihrer Auslieferung eher entziehen als sich für das Verfahren zur Verfügung halten wird. Insoweit bedarf es, da die Auslieferungshaft in das Grundrecht auf persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) eingreift (vgl. BVerfG, BeckRS 2006, 21451), vor dem Hintergrund der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts (vgl. BVerfG, StV 2013, 94, NStZ-RR 2007, 379, 380 f.) für die Rechtfertigung des Eingriffs einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände ...

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