Entscheidungsstichwort (Thema)

Beschleunigungsgebot in Haftsachen: Nicht jede Verhinderung eines Verteidigers ist bei der Terminierung zu berücksichtigen

 

Leitsatz (amtlich)

Das Recht eines Angeklagten, sich von einem Anwalt seiner Wahl und seines Vertrauens vertreten zu lassen, wird durch das Beschleunigungsgebot in Haftsachen begrenzt. Bei der Terminierung ist deshalb nicht jede Verhinderung eines Verteidigers zu berücksichtigen. Die terminlichen Verhinderungen des Verteidigers können angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) nur insoweit berücksichtigt werden, als dies nicht zu einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens führt.

 

Normenkette

JGG § 2 Abs. 2; StPO § 112a Abs. 1 S. 1 Nr. 2, §§ 142, 145

 

Verfahrensgang

AG Bremen (Entscheidung vom 07.07.2015; Aktenzeichen 103 Gs 57/15)

 

Tenor

1. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Bremen vom 07.07.2015 - 103 Gs 57/15 wird aufgehoben.

2. Die sofortige Entlassung des Angeklagten [....]aus der Untersuchungshaft wird angeordnet.

 

Gründe

Das Amtsgericht Bremen erließ am 07.07.2015 - 103 Gs 57/15 - Haftbefehl gegen den zur Tatzeit 18-jährigen Angeklagten wegen des dringenden Verdachts der gefährlichen Körperverletzung gemäß §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Die Anordnung der Untersuchungshaft erfolgte wegen des Haftgrunds der Wiederholungsgefahr gemäß § 2 Abs. 2 JGG, § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO. Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, am 01.07.2015 als Heranwachsender in dem Geschäft [...] im [...] in der [...]-Straße in [...] dem Geschädigten [...], einem Mitarbeiter des Geschäfts, in einem für Kunden nicht zugänglichen Bereich mit einer Glasflasche von hinten auf den Kopf geschlagen zu haben, wodurch der Geschädigte eine Kopfplatzwunde erlitt. Das Amtsgericht Bremen geht ausweislich des Haftbefehls davon aus, dass die Tat vor dem Hintergrund einer früheren Körperverletzung des Angeklagten zum Nachteil desselben Geschädigten begangen wurde, und der Angeklagte sich für die zuvor erfolgte Anzeigenerstattung durch den Geschädigten rächen wollte. Die Anklage vom 14.07.2015 ging am 16.07.2015 beim Amtsgericht ein. Die Akte hatte bis zu diesem Zeitpunkt einen Umfang von 64 Seiten. Das vom Amtsgericht eingeholte psychiatrische Gutachten liegt seit dem 12.10.2015 vor. Am 15.10.2015 wurde die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Termin zur Hauptverhandlung wurde anberaumt für den 18.01.2016. Der Aktenumfang war jetzt auf 127 Seiten zuzüglich des Gutachtens angewachsen. Der Angeklagte befindet sich seit seiner aufgrund des Haftbefehls erfolgten Festnahme am 10.07.2015 ununterbrochen in Untersuchungshaft.

Mit Verfügung vom 18.12.2015 hat das Amtsgericht die Akten dem Senat über die Staatsanwaltschaft und die Generalstaatsanwaltschaft Bremen zur Entscheidung über die Haftfortdauer zugeleitet. Die späte Terminierung begründete es im Wesentlichen mit Terminschwierigkeiten des Verteidigers und der Sachverständigen. Die Generalstaatsanwaltschaft Bremen hat dem Senat die Akten am 29.12.2015 vorgelegt und die Fortdauer der Untersuchungshaft beantragt.

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Bremen vom 07.07.2015 war aufzuheben und die Entlassung des Angeklagten anzuordnen, denn das Verfahren ist nicht mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden. Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Angeklagten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (BVerfG, Beschluss vom 29.12.2005 - 2 BvR 2057/05 -, jurisRn. 55; Beschluss vom 16.03.2006 - 2 BvR 170/06 -, jurisRn. 21; Beschluss vom 13.05.2009 - 2 BvR 388/09 -, jurisRn. 19; Beschluss vom 24.08.2010 - 2 BvR 1113/10 -, jurisRn. 19; Beschluss vom 14.11.2012 - 2 BvR 1164/12 -, jurisRn. 40; Beschluss vom 17.01.2013 - 2 BvR 2098/12 -, jurisRn. 39; Beschluss vom 22.01.2014 - 2 BvR 2248/13 -, jurisRn. 32; Beschluss vom 30.07.2014 - 2 BvR 1457/14 -, jurisRn. 19;Beschluss vom 09.12.2014 - Ws121/14 -; Senat, Beschluss vom 06.11.2014 - Ws 104/14 -).

Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt zum einen, dass die Anforderun...

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