Verfahrensgang

OLG München (Beschluss vom 10.06.2014; Aktenzeichen 2 Ws 538/14)

LG München I (Beschluss vom 29.04.2014; Aktenzeichen J KLs 451 Js 173287/13 jug)

 

Tenor

Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 10. Juni 2014 – 2 Ws 537/14 H und 538/14 – und der Beschluss des Landgerichts München I vom 29. April 2014 – J KLs 451 Js 173287/13 jug – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 EUR (in Worten: Zehntausend Euro) festgesetzt.

 

Tatbestand

A.

Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft durch eine Beschwerdeentscheidung des Landgerichts München I und eine Haftfortdauerentscheidung des Oberlandesgerichts München.

I.

Der 18-jährige, nicht vorbestrafte Beschwerdeführer befindet sich seit dem

14. August 2013 aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts München vom selben Tage ununterbrochen in Untersuchungshaft. Nach dem Haftbefehl besteht gegen ihn der dringende Tatverdacht der Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung; als Haftgründe werden Flucht- und Wiederholungsgefahr angeführt. Am 11. Dezember 2013 machte der Beschwerdeführer, der den Tatvorwurf zunächst bestritten hatte, bei einer Vernehmung detaillierte Angaben, mit denen er das Tatgeschehen weitgehend einräumte.

Am 29. Januar 2014 erhob die Staatsanwaltschaft wegen im Wesentlichen unverändert gebliebener Tatvorwürfe gegen den Beschwerdeführer Anklage vor der Jugendkammer des Landgerichts München I. Am 25. Februar 2014 ordnete das Oberlandesgericht München im Rahmen des nach §§ 121, 122 StPO notwendigen Haftprüfungsverfahren erstmals die Haftfortdauer an. Mit Schriftsatz vom 25. März 2014 legte der Beschwerdeführer gegen den Haftbefehl Beschwerde ein.

Am 2. April 2014 eröffnete die Jugendkammer des Landgerichts München I das Hauptverfahren und ließ die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zu. Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung wurden auf den 14., 15., 20., 22. und 24. Oktober 2014 bestimmt.

Mit angegriffenem Beschluss vom 29. April 2014, dem umfangreiche Statistiken über die Geschäftsentwicklung der großen Strafkammern beim Landgericht München in den Jahren 2006-2013 beigefügt waren, verwarf die Jugendkammer die eingelegte Haftbeschwerde als unbegründet. Durch die Eröffnung des Hauptverfahrens am 2. April 2014 könne eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes nicht mehr begründet werden. Angesichts der Vielzahl der von der Kammer im Kalenderjahr 2014 zu bewältigenden Verfahren – der Beschluss listet im Einzelnen auf, mit welchen Hauptverhandlungen die Kammer im Kalenderjahr 2014 bislang befasst war und in den nächsten Monaten befasst sein wird – sei eine frühere Terminierung als auf Oktober 2014 nicht möglich. Der Ablauf der in diesem Jahr bisher durchgeführten Hauptverhandlungen – wie der noch anstehenden bereits festgesetzten Termine – zeige, dass es der Jugendkammer aufgrund der besonderen Belastung nicht möglich sei, das Verfahren gegen den Beschwerdeführer früher durchzuführen. Die Jugendkammer habe, wie sich aus den dem Beschluss beigefügten Statistiken über den Geschäftsanfall seit dem Jahr 2006 ergebe, in der Vergangenheit regelmäßig innerhalb des Gerichts die meisten Sitzungstage abgehalten. Allein dem überobligatorischen Einsatz verschiedener Richter und Richterinnen der Kammer sei dabei die Bewältigung des bisherigen Pensums zu verdanken. In den Jahren 2006 bis 2013 sei die Kammer mit einem Vorsitzenden, einem Vollzeitrichter und zwei Halbtagsrichterinnen besetzt gewesen. Seit dem 1. Dezember 2013 verfüge die Kammer jedoch über zwei Vollzeitrichter als Beisitzer. In der Vielzahl von Verfahren, bei denen die Kammer nach § 76 GVG in Dreierbesetzung zu verhandeln habe, führe dies dazu, dass während des Sitzungsdienstes keinerlei Büroarbeit mehr erledigt werden könne.

Angesichts dieser Lage sei die Kammer in der Vergangenheit auf entsprechende Überlastungsanzeigen hin gelegentlich entlastet worden. Derzeit werde die Kammer vom 10. Februar 2014 bis zum 10. Mai 2014 von Haftsachen sowie erstinstanzlichen Verfahren, die keine Schwurgerichtsverfahren seien, entlastet. Dies habe bislang zur Entlastung mit gerade einem Verfahren geführt.

Bei dieser Konstellation und Belastung sei es der Jugendkammer nicht länger zuzumuten, jede Woche an mehreren Tagen eine Hauptverhandlung durchzuführen. Zusammengefasst sei aus Sicht der Kammer eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes aus den konkreten Umständen heraus nicht herleitbar, weshalb sich die Haftbeschwerde als unbegründet erweise.

Gegen diesen Beschluss der Jugendkammer legte der Beschwerdeführer unter dem 14. Mai 2014 weitere Beschwerde ein.

Mit Verfügung vom 4. Juni 2014 hob die Jugendkammer die zunächst für Oktober anberaumten Hauptverhandlungstermine auf und bestimmte neue Hauptverhandlungstermine auf den 9., 10., 19. und 22. September 2014.

Mit angegriffenem Beschluss vom 10. Juni 2014 ordnete das Oberlandesgericht München im Rahmen der zweiten Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO erneut die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers an; dadurch habe sich die weitere Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 29. April 2014 erledigt. Die Haftfortdauer stehe auch nach knapp 10-monatiger Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der dem Angeklagten drohenden Freiheitsstrafe. Insbesondere werde dem in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebot gerade noch entsprochen. Die Jugendkammer habe die am 29. Januar 2014 erhobene Anklage mit Eröffnungsbeschluss vom 2. April 2014 unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen. Eine Verzögerung sei damit jedenfalls bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens nicht eingetreten. Auch die Zeitspanne bis zum Beginn der Hauptverhandlung am 9. September 2014 stelle noch keine der Justizverwaltung anzulastende Verletzung des Beschleunigungsgebotes dar, zumal der ursprüngliche Hauptverhandlungsbeginn inzwischen um fünf Wochen vorverlegt worden sei. Zwar sei die zuständige Jugendkammer merklich überlastet, was sich über einen längeren Zeitraum aufgebaut habe; hierzu habe die Änderung der gesetzlichen Regelung des § 76 GVG, die seit 1. Januar 2012 deutlich häufiger eine Hauptverhandlung in der Besetzung mit drei Berufsrichtern verlange, wesentlich beigetragen, ohne dass die Justizverwaltungen den Mehrbedarf sofort durch entsprechende zusätzliche Neueinstellungen von Richtern hätten kompensieren können. Vor diesem Hintergrund habe das Präsidium des Landgerichts München l im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden beschränkten Mittel im vorliegenden Fall mit mehrfachen periodischen Verfahrensumverteilungen auf andere Strafkammern noch ausreichend auf die sich zuspitzende Belastungssituation der Jugendkammer reagiert. Dass die letzte dreimonatige Entlastung der Jugendkammer um sämtliche neu eingehende Berufungsverfahren effektiv nur zur Entlastung um ein Verfahren geführt habe, sei nicht vorhersehbar gewesen. Darüber hinaus habe das Präsidium jedoch auch auf die vermehrte Notwendigkeit einer Hauptverhandlung in Dreierbesetzung reagiert und der Jugendkammer seit dem 1. Dezember 2013 statt einer Vollzeitkraft und zweier Teilzeitkräfte zwei Vollzeitrichter als Beisitzer zugewiesen, um die geforderte Verhandlungsdichte besser zu gewährleisten. Unter Berücksichtigung dessen und der Vorverlegung des Hauptverhandlungstermins auf den 9. September 2014 sei die – ohne Zweifel lange – Zeitspanne bis zum Beginn der Hauptverhandlung aufgrund der detailliert dargestellten Ausbuchung der Kammer mit Hauptverhandlungen, die durch weitere Entlastungsmaßnahmen nicht zu ändern sei, als eine noch nicht der Justiz zuzurechnende unvertretbare Verzögerung anzusehen, die eine Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers verböte.

II.

Mit seiner am 27. Juni 2014 gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 29. April 2014 und den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 10. Juni 2014 erhobenen Verfassungsbeschwerde, die er mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden hat, rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Freiheitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.

Dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen sei in der Regel nur Rechnung getragen, wenn innerhalb von drei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Hauptverhandlung begonnen werde. Angesichts der jetzt terminierten Hauptverhandlung werde sich der Beschwerdeführer bei deren Beginn ein Jahr und drei Wochen ununterbrochen in Untersuchungshaft befunden haben. Zwischen der Eröffnungsreife, die der Beschwerdeführer für den 19. Februar 2014 annimmt, bis zur Hauptverhandlung liege ein Zeitraum von beinahe sieben Monaten. Selbst zwischen der Eröffnung des Hauptverfahrens am 2. April 2014 und dem Beginn der Hauptverhandlung betrage der Verfahrensstillstand mehr als fünf Monate. Dieser lasse sich auch durch die außerordentliche Belastung der Jugendkammer nicht rechtfertigen. Dies gelte umso mehr bei Anlegung objektiver Kriterien, zumal sich der Beschwerdeführer bereits im Ermittlungsverfahren weitgehend geständig eingelassen und auch sonst keine Einwendungen vorgebracht oder Beweiserhebungen beantragt habe.

III.

Das Bayerische Staatsministerium für Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen.

Der Generalbundesanwalt vertritt in seiner Stellungnahme die Auffassung, der Verfassungsbeschwerde könne der Erfolg nicht versagt werden. Es fehle an einer tragfähigen Begründung für die Fortdauer der Untersuchungshaft.

Dem Bundesverfassungsgericht haben die nach Anklageerhebung fortgeführten Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.

 

Entscheidungsgründe

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.

I.

Der Beschluss des Landgerichts München I vom 29. April 2014 und der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 10. Juni 2014 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist (vgl. BVerfGE 19, 342 ≪347≫; 74, 358 ≪370 f.≫), nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. grundlegend BVerfGE 19, 342 ≪347≫ sowie BVerfGE 20, 45 ≪49 f.≫; 36, 264 ≪270≫; 53, 152 ≪158 f.≫; BVerfGK 15, 474 ≪479≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. –, juris, Rn. 32).

Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung (vgl. BVerfGE 36, 264 ≪270≫; 53, 152 ≪158 f.≫). Daraus folgt zum einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu (vgl. BVerfGK 7, 140 ≪161≫; 15, 474 ≪480≫; 19, 428 ≪433≫).

Die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte müssen daher alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. So ist im Falle der Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10 –, juris, Rn. 15) und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12 –, juris, Rn. 43).

Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch Verfahrensverzögerungen verursacht ist, die ihre Ursache nicht in dem konkreten Strafverfahren haben und daher von dem Beschuldigten nicht zu vertreten, sondern vermeidbar und sachlich nicht gerechtfertigt sind (vgl. BVerfGK 15, 474 ≪480≫; m.w.N.). Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat können zwar kleinere Verfahrensverzögerungen die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen (BVerfGK 7, 140 ≪156≫).

Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann insofern niemals Grund für die Anordnung der Haftfortdauer sein (vgl. BVerfGE 36, 264 ≪273 ff.≫). Vielmehr kann die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts selbst dann die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt (BVerfGE 36, 264 ≪273 ff.≫). Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (BVerfGE 36, 264 ≪275≫).

Im Rahmen der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen; insofern sind in erster Linie die Komplexität der einzelnen Rechtssache, die Vielzahl der beteiligten Personen und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. –, juris, Rn. 37). Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird dabei auch unter Berücksichtigung der genannten Aspekte nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2008 – 2 BvR 2652/07 –, juris, Rn. 45 und der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08 –, juris, Rn. 36).

Da der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist (vgl. hierzu BVerfGE 53, 30 ≪65≫; 63, 131 ≪143≫), unterliegen Haftfortdauerentscheidungen insofern einer erhöhten Begründungstiefe (vgl. BVerfGE 103, 21 ≪35 f.≫; BVerfGK 7, 140 ≪161≫; 10, 294 ≪301≫; 15, 474 ≪481≫; 19, 428 ≪433≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. –, juris, Rn. 38). In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können (vgl. BVerfGK 7, 140 ≪161≫; 10, 294 ≪301≫; 15, 474 ≪481≫; 19, 428 ≪433≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. –, juris, Rn. 38). Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein (vgl. BVerfGK 7, 421 ≪429 f.≫; 8, 1 ≪5≫; 15, 474 ≪481 f.≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 u.a. –, juris, Rn. 39).

II.

Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht. Sie enthalten keine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung für die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft.

1. Bereits die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts verkennt Inhalt und Tragweite der verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Rechtfertigung einer Fortdauer von Untersuchungshaft, indem sie ausschließlich auf die Auslastung der Kammer abstellt. Die Begründung einer Haftfortdauerentscheidung allein durch die Dokumentation des Geschäftsanfalls der großen Strafkammern bei dem Landgericht München I seit dem Jahr 2006 ist in jeder Hinsicht sachfremd. Die geschilderte Personalsituation am Landgericht München I steht in keinem Zusammenhang zu den Erwägungen, die für eine zu treffende Haftfortdauerentscheidung maßgeblich sein dürfen. Die als unzureichend empfundene personelle Ausstattung eines Gerichts vermag eine längere als die verfahrensangemessene Untersuchungshaft eines Beschuldigten in keinem Fall zu rechtfertigen. Kann dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht Rechnung getragen werden, weil der Staat seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte nicht nachkommt, haben die mit der Haftprüfung betrauten Fachgerichte die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zu ziehen, indem sie die Haftentscheidung aufheben; ansonsten verfehlen sie die ihnen obliegende Aufgabe, den Grundrechtsschutz der Betroffenen zu verwirklichen (vgl. BVerfGK 6, 384 ≪397≫).

2. Auch der im Rahmen der zweiten Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO ergangene Beschluss des Oberlandesgerichts führt keine verfassungsrechtlich tragfähigen Gründe für die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft an.

Das Verfahren ist, unabhängig davon, ob wegen bereits davor eingetretener Eröffnungsreife sogar auf einen früheren Zeitpunkt als auf den 2. April 2014 – dem Datum des Eröffnungsbeschlusses – abzustellen wäre, nicht in der durch das Gewicht des Freiheitseingriffs gebotenen Zügigkeit mit einem Beginn der Hauptverhandlung binnen drei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens gefördert worden. Darüber hinaus wird sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des geplanten Beginns der Hauptverhandlung im September 2014 schon deutlich länger als ein Jahr in Untersuchungshaft befunden haben. Vor diesem Hintergrund ist eine Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nur ausnahmsweise möglich; ihre Fortdauer hätte daher besonders sorgfältig begründet werden müssen.

Indes zeigt der Beschluss keine besonderen – objektiven – Umstände auf, welche die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft ausnahmsweise verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen könnten. Er wird damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Haftfortdauerentscheidungen nicht gerecht.

(a) Die Ausführungen des Oberlandesgerichts, die auf Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes abstellen, die zudem bereits im Jahre 2012 in Kraft getreten sind, lassen von vornherein keinen spezifischen Zusammenhang zu der zu treffenden Haftfortdauerentscheidung erkennen. Eine Änderung der allgemeinen Vorschriften über die Besetzung der großen Strafkammern in § 76 GVG stellt keine Besonderheit eines konkreten Strafverfahrens dar, erst recht keine, die dem Beschwerdeführer zuzurechnen wäre.

(b) Soweit das Oberlandesgericht ausführt, die Fortdauer der Untersuchungshaft sei trotz ihrer langen Dauer deswegen nicht zu beanstanden, weil das Präsidium des Landgerichts München I im Rahmen seiner Möglichkeiten auf die sich zuspitzende Belastungssituation der Jugendkammer reagiert habe, stellt dies ebenfalls keinen verfassungsrechtlich tragfähigen Grund für die Haftfortdauer dar. Allenfalls kurzfristige, unvermeidbare und unvorhersehbare Belastungssituationen eines Gerichts wären im Einzelfall geeignet, eine Verzögerung in der Verfahrensförderung zu rechtfertigen. Diese Voraussetzungen lassen sich dem Beschluss des Oberlandesgerichts jedoch nicht entnehmen. Seine Ausführungen sprechen vielmehr dafür, dass sich die Überlastungssituation schon über längere Zeit aufgebaut hat. Eine solche Überlastung des Gerichts fällt in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft; sie ist dem Beschwerdeführer in keinem Fall zuzurechnen.

(c) Auch auf die Schwere der Tat kann hier für die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht abgestellt werden. Es hätte einer eingehenden Begründung bedurft, inwieweit allein die Schwere des Tatvorwurfes im vorliegenden Fall eine deutlich längere Verfahrens- und damit auch Untersuchungshaftdauer erfordert, die das Oberlandesgericht indes vermissen lässt. Dies gilt umso mehr, als es sich ersichtlich um einen insgesamt einfach gelagerten Fall handelt. Infolge des weitgehenden Geständnisses des Beschwerdeführers ist der Sachverhalt, abgesehen von Randfragen und der Feststellung seiner Schuldfähigkeit durch ein in der Hauptverhandlung zu erstattendes Sachverständigengutachten, im Wesentlichen bereits geklärt. Es ist nicht erkennbar, dass umfangreiche Beweiserhebungen zu

erwarten sind; entsprechende Anträge hat der Beschwerdeführer jedenfalls bislang nicht gestellt.

III.

Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2

Satz 2 GG durch die angegriffenen Beschlüsse festzustellen.

Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 10. Juni 2014 ist unter Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Dieses wird unter Beachtung der vorstehenden Ausführungen erneut über die Haftfortdauer zu entscheiden haben.

IV.

Mit der Entscheidung in der Hauptsache erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

V.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

VI.

Der nach § 37 Abs. 2 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren beträgt mindestens 5.000 EUR (in Worten: Fünftausend Euro) und, wenn – wie hier – die Verfassungsbeschwerde aufgrund einer Entscheidung der Kammer Erfolg hat, in der Regel 10.000 EUR (in Worten: Zehntausend Euro). Weder die objektive Bedeutung der Sache noch Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen Besonderheiten auf, die zu einer Abweichung Anlass geben.

 

Unterschriften

Landau, Kessal-Wulf, König

 

Fundstellen

Haufe-Index 7182132

JR 2014, 488

NStZ-RR 2014, 314

NPA 2015

StRR 2014, 323

StRR 2014, 447

StV 2015, 39

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