Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslieferung eines polnischen Staatsangehörigen zur Strafverfolgung nach Frankreich trotz anderweitiger Rechtshängigkeit in Polen

 

Leitsatz (amtlich)

Der Auslieferung eines Verfolgten an einen Mitgliedstaat (hier: Frankreich) steht es nicht entgegen, dass dieser wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Polen) angeklagt wurde und gegen ihn dort eine Hauptverhandlung durchgeführt wird.

 

Normenkette

IRG § 83b Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3; GG Art. 103 Abs. 3; GRCh Art. 50; SDÜ Art. 54

 

Tenor

Die Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland nach Frankreich zum Zweck der Strafverfolgung wegen der im Europäische Haftbefehl des Staatsanwalts bei dem Bezirksgericht Paris vom 28. Februar 2019 (Az. 14261000083) bezeichneten Straftat wird für zulässig erklärt.

Die Auslieferungshaft dauert fort.

 

Gründe

I.

Die französischen Behörden haben durch eine Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) nach Art. 26 des SIS-II-Beschlusses vom 28. Februar 2019 um Auslieferung des Verfolgten zur Strafverfolgung ersucht. Der Ausschreibung liegt ein Europäischer Haftbefehl des Staatsanwaltes beim Bezirksgericht Paris vom 28. Februar 2019 (Az. 14261000083) zugrunde, der auf Basis des Haftbefehls der Untersuchungsrichterin in Charleville-Meziere vom 27. Februar 2019 erlassen wurde.

Dem Verfolgten wird ausweislich der übermittelten Zusatzinformationen zu Artikel 26 des Ratsbeschlusses SIS II (A-Formular) Ziffer 044 (Bl. 5 d.A., Übersetzung Bl. 15 d.A) zur Last gelegt, in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 2013 mit mehreren Personen ein Loch in die Decke des Juweliergeschäfts "... et ..." im Einkaufszentrum ... Hypermarkt in ..., Département Ardennes, gebrochen, sich sodann abgeseilt und Goldschmuck im Wert von ca. 264.318,95 € entwendet zu haben.

Der Verfolgte wurde am 15. Juli 2022 im Landkreis Peine festgenommen und befindet sich seitdem in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel, Abteilung Braunschweig. Er hat sich bei seiner Vernehmung durch die Richterin beim Amtsgericht Braunschweig am 16. Juli 2022 mit seiner vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt und hat auch nicht auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet.

Der Senat hat auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig am 21. Juli 2022 die Auslieferungshaft gegen den Verfolgten angeordnet.

Mit Vorabentscheidung nach § 79 Abs. 2 IRG vom 22. Juli 2022 hat die Generalstaatsanwaltschaft bekannt gegeben, keine Bewilligungshindernisse gemäß § 83b IRG geltend zu machen und die Auslieferung zu bewilligen, sofern sie durch das Oberlandesgericht Braunschweig für zulässig erklärt wird.

Mit Schreiben vom 3. August 2022 hat das Amtsgericht Gdansk-Nord mitgeteilt, dass dort gegen den Verfolgten wegen derselben Tat, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, ein Strafverfahren anhängig ist. Der Verfolgte habe im Rahmen dieses Verfahrens die Tat gestanden, weshalb gegen ihn keine Präventivmaßnahmen ergriffen worden seien.

Die französischen Behörden haben am 8. August 2022 mitgeteilt, dass Polen aufgrund des dort gegen den Verfolgten geführten Strafverfahrens ein Auslieferungsersuchen nach Frankreich abgelehnt hätte. Am 9. August 2022 haben die französischen Behörden ergänzend mitgeteilt, dass der Europäische Haftbefehl dennoch weiter gültig sei.

Mit Zuschrift vom 22. August 2022 hat die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig beantragt, die Auslieferung des Verfolgten nach Frankreich zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig zu erklären.

Der Beistand des Verfolgten hat mit Schreiben vom 6. September 2022 Stellung genommen. Er führt aus, in der Entscheidung der polnischen Behörden, mit der sie die Auslieferung des Verfolgten nach Frankreich abgelehnt haben, liege ein Auslieferungshindernis in Gestalt einer gerichtlichen Entscheidung. Zwar gelte § 83b Abs. 1 Nr. 1 IRG für diesen Fall nicht unmittelbar. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen gebiete es aber, ein Auslieferungshindernis anzunehmen. Andernfalls werde die Intention des Gesetzgebers verletzt und die Entscheidung der polnischen Behörden untergraben. Der Verfolgte stehe wegen der verfahrensgegenständlichen sowie 17 weiterer Taten, die er in verschiedenen europäischen Staaten begangen haben soll, in Polen vor Gericht. Er habe sich bislang dem Verfahren uneingeschränkt gestellt, weshalb gegen ihn keine Untersuchungshaft angeordnet worden sei. Die Verfahrensakten umfassten 80 Ordner und die Verhandlung dauere bereits seit 3 Jahren an. Sie stehe kurz vor dem Abschluss, drohe nun aber aufgrund der Inhaftierung des Verfolgten in Deutschland und der möglichen Auslieferung nach Frankreich zu scheitern.

II.

1.

Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, die Auslieferung für zulässig zu erklären (§ 29 Abs. 1 IRG), war zu entsprechen. Die Auslieferung des Verfolgten ist zulässig.

Die Ausschreibung im Schengener Informationssystems (SIS) nach Art 26 des SIS-II-Beschlusses vom 28. Februar 2019 enthält die gemäß § 83a Abs. 1 IRG erforderlichen Angaben und gilt dahe...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge