Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. höhere Entschädigung bei personell unterbesetzten und strukturell überlasteten Sozialgerichten. unangemessene Verfahrensdauer in der ersten Instanz. Pflicht zur Verfahrensbeschleunigung in der Berufungsinstanz. Entschädigung einer juristischen Person. entschädigungsrechtliche Bedeutung von Musterprozessen. Auswirkung der Schwierigkeit der Sache auf Bearbeitungszeit und Reaktionen der Beteiligten. Abwarten von Vergleichsverhandlungen. nur vorläufige Bearbeitung bis zum Vorliegen der Berufungsbegründung. weitere Bearbeitung des Verfahrens auch während laufender Stellungnahmefristen. sozialgerichtliches Verfahren

 

Orientierungssatz

1. Es spricht für eine (maßvoll) erhöhte Entschädigung, wenn die überlange Verfahrensdauer auch auf eine Unterbesetzung der Sozialgerichte (hier in Sachsen-Anhalt) beruht, mit der eine Verletzung von Grundrechten in schwierigen Verfahren strukturell vorgezeichnet ist und auch regelmäßig erfolgt.

2. Je länger das Verfahren insgesamt dauert, umso mehr verdichtet sich die aus dem Justizgewährleistungsanspruch resultierende Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen (vgl BSG vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 1/13 R = BSGE 118, 91 = SozR 4-1720 § 198 Nr 7 unter Hinweis auf BVerfG vom 20.7.2000 - 1 BvR 352/00 = NJW 2001, 214 und vom 22.8.2013 - 1 BvR 1067/12 = NJW 2013, 3630). Dies trifft auf die Berufungsinstanz uneingeschränkt zu.

3. Bei einer juristischen Person (hier: GmbH) ist regelmäßig eine geringere Entschädigung als der Regelbetrag des § 198 Abs 2 S 3 GVG angemessen

4. Ein Zeitraum von 56 Monaten ohne erkennbare Sachbearbeitung und eine nicht akzeptable vollständige Untätigkeit des LSG von zweieinhalb Jahren spricht allerdings für eine höhere Entschädigung.

5. Die Bedeutung eines Verfahrens steigt, wenn es als "Musterverfahren" geführt wird, zu dem auch Parallelverfahren anhängig sind.

6. Die Schwierigkeit der Sache hat nicht nur Auswirkungen auf die richterliche Bearbeitungszeit, sondern auch auf die Reaktion der Beteiligten in solchen Verfahren.

7. Solange Vergleichsverhandlungen laufen, muss das Gericht nicht parallel das Verfahren bearbeiten.

8. In einem komplexen Verfahren kann ohne Vorliegen der Berufungsbegründung in der Berufungsinstanz nur eine vorläufige Bearbeitung stattfinden.

9. Während des Zuwartens von Stellungnahmen kann eine weitere Bearbeitung durch das Gericht angezeigt und notwendig erscheinen.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 25.10.2016; Aktenzeichen B 10 ÜG 24/16 B)

 

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4.200,00 Euro zu zahlen.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin und die Gerichtskosten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auf 4.200,00 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt eine angemessene Entschädigung für eine überlange Verfahrensdauer in dem Klageverfahren (S 12 P 27/00) vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg und in dem Berufungsverfahren (L 4 P 1/07) vor dem Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt.

Am 6. Oktober 1999 beantragte die Klägerin die Zustimmung zur gesonderten Inrechnungstellung von Investitionsaufwendungen i.H.v. 10,05 DM (5,14 Euro) pro Pflegetag und Heimbewohner für den Zeitraum vom 6. Dezember 1999 bis 31. Dezember 2000. Am 7. April 2000 stimmte das in jenem Verfahren und auch hier beklagte Land Sachsen-Anhalt nur einer Inrechnungstellung der Abschreibung für ein Kfz i.H.v. 0,38 DM (0,19 Euro) für den Zeitraum vom 6. Dezember bis 31. Dezember 2000 pro Heimbewohner zu und lehnte den Antrag im Übrigen ab. Daraufhin erhob die Klägerin Klage. Aus den beigezogenen Akten dieses Ausgangsverfahrens ergeben sich zusammengefasst folgende Vorgänge und Verfügungen:

8. Mai 2000 Klageeingang, Klagebegründung wird vorbehalten

14. Juni 2000 Erwiderung des Beklagten, ausführliche Klageerwiderung wird vorbehalten, Wv. (Wiedervorlage): 1. September 2000

13. Juli 2000 Eingang der Klagebegründung vom 12. Juli 2000

1. August 2000 Schriftsatz der Klägerin vom 12. Juli 2000 zur Kenntnis- und Stellungnahme an den Beklagten, Wv.: 20. September 2000

20. September 2000 Klageerwiderung des Beklagten vom 11. September 2000 zur Kenntnis- und Stellungnahme an die Klägerin, Wv.: 10. November 2000

2. November 2000 Eingang Schriftsatz der Klägerin vom 30. Oktober 2000

28. März 2001 Vermerk der Geschäftsstelle, Schreiben vom 30. Oktober 2000 sei fehlerhaft zugeordnet und abgelegt worden

3. April 2001 Schriftsatz der Klägerin vom 30. Oktober 2000 zur Kenntnis- und Stellungnahme an den Beklagten, Wv.: 10. Juni 2001

28. Mai 2001 Eingang Schriftsatz des Beklagten vom 22. Mai 2001

(Wechsel im Kammervorsitz zum 1. Juni 2001)

18. Juni 2001 Übersendung des Schriftsatzes des Beklagten vom 22. Mai 2001 und Anforderung Originalvollmacht

29. Juni 2001 Eingang Originalvollmacht

26. März 2002 Gerichtliches Schreiben an den Beklagten; Anforderung von Unterlagen

2. Mai 2002 Eingang der angeforderten Unterl...

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