Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen G und B. erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Notwendigkeit ständiger Begleitung. Entzug der Merkzeichen. Vollendung des 16. Lebensjahres. Hauptschulabschluss. Möglichkeit des Rückgriffs auf moderne Kommunikationsmittel. sozialgerichtliches Verfahren. aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage. Gehörlosigkeit. Orientierung im Straßenverkehr. Mitnahme einer Begleitperson

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei einem unter Taubheit leidenden volljährigen Kläger liegen nach Abschluss der Hauptschule und Beginn einer beruflichen Ausbildung die Merkzeichen G und B nicht mehr vor, sofern bei ihm keine erhebliche Störung seiner Ausgleichsfunktionen (Sehbehinderung, geistige Behinderung) festgestellt wurde.

2. Neben einer schriftlichen Auskunft können auch moderne Kommunikationsmittel (zB Mobilfunktelefone mit Internetfunktion) zur Orientierung eingesetzt werden. Unregelmäßige Störungen können nicht Maßstab für die Orientierungsfähigkeit sein.

 

Orientierungssatz

Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Entzug der Merkzeichen führt dazu, dass der behinderte Mensch noch bis zum Ende des Klageverfahrens die Vorteile der Merkzeichen in Anspruch nehmen kann.

 

Normenkette

SGB IX § 69 Abs. 4, § 145 Abs. 1 S. 1, § 146 Abs. 1 S. 1, Abs. 2; SGB X § 48 Abs. 1 S. 1

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob der Beklagte dem Kläger die Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und B (Berechtigung für eine ständige Begleitung) ab 1. Juli 2011 entziehen durfte.

Der am ... 1992 geborene Kläger erlitt im Februar 1994 eine bakterielle Meningitis, in deren Folge er ertaubte. Mit Bescheid vom 31. Januar 1995 stellte der Beklagte bei ihm einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen G, B, H (hilflos) und RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) sowie mit Bescheid vom 27. März 2002 zusätzlich ab 1. Juli 2001 das Merkzeichen Gl (gehörlos) fest.

Am 9. Juli 2008 erwarb der Kläger den Hauptschulabschluss an der Sekundarschule "Schule an der M." D.-R. Die Mutter des Klägers übersandte am 28. August 2008 eine Bescheinigung über die Teilnahme des Klägers an einer berufsvorbereitenden Maßnahme (Zeitraum 18. August 2008 bis 17. Juli 2009) im bbw Berufsbildungswerk L. für Hör- und Sprachgeschädigte GmbH (nachfolgend: bbw L.) und am 4. Oktober 2009 eine Beendigungsmitteilung der Bundesagentur für Arbeit. Danach sei die Zusage über die Ausbildung zum Zerspanungsmechaniker aufgehoben worden, weil die Ausbildung nicht zustande gekommen sei. Nach der Eingliederungsvereinbarung zwischen dem Kläger und der Agentur für Arbeit vom 13. Oktober 2009 sollte ab 28. Dezember 2009 für maximal sechs Monate die berufliche Eingliederung des Klägers durch eine Heranführung an den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt unterstützt werden und die Überprüfung von Motivation, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit erfolgen. Am 26. November 2010 übersandte die Mutter des Klägers eine Schulbescheinigung des bbw L., wonach der Kläger dort am 9. August 2010 eine Ausbildung als Zerspanungsmechaniker begonnen habe, die voraussichtlich am 8. Februar 2014 ende. Ergänzend teilte sie mit, der Kläger fahre täglich mit der Bahn zur Ausbildung und zur Schule nach L.

Mit Schreiben vom 11. März 2011 hörte der Beklagte den Kläger zum Entzug der Merkzeichen G und B an, weil in den Verhältnissen insoweit eine Änderung eingetreten sei, als nach Abschluss der Gehörlosenschule die Voraussetzungen für diese Merkzeichen nicht mehr erfüllt seien. Die Mutter des Klägers teilte dazu am 24. März 2011 mit, die Ausbildung sei nicht beendet und auch der Gesundheitszustand mit vorübergehender völliger Gehörlosigkeit (ein viertel Jahr) einschließlich Schwindel rechtfertige nicht den Entzug der Merkzeichen. Sein Freund sei über 20 Jahre alt und habe noch alle Merkzeichen.

Mit Bescheid vom 20. Juni 2011 hob der Beklagte den Bescheid vom 31. Januar 1995 auf, stellte weiterhin einen GdB von 100 (Ertaubung nach Hirnhautentzündung, Versorgung mit Cochlearimplantaten) sowie die Merkzeichen H, RF und Gl fest und entzog mit Wirkung vom 1. Juli 2011 die Merkzeichen G und B. Dagegen erhob der Kläger am 18. Juli 2011 Widerspruch und machte geltend: Da er keine Gehörlosenschule besucht habe, sei die Entscheidung nicht nachvollziehbar. Er sei nach wie vor taub, eine gesundheitliche Verbesserung habe sich nicht ergeben. Insbesondere bestehe weiterhin die Selbstgefährdung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18. November 2011 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück und führte aus: Das Merkzeichen G sei bei Hörbehinderungen festzustellen, wenn eine Taubheit oder an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit im Kindesalter (in der Regel bis zum 16. Lebensjahr) vorliege. Im Erwachsenenalter sei das Merkzeichen G anzuerk...

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