Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Durchsetzung einer abgelehnten Krankenbehandlung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes. intravitreale Injektion keine neue Behandlungsmethode. keine Erbringung einer gebührenrechtlich im EBM-Ä nicht erfassten ärztlichen Leistung als vertragsärztliche Leistung. Beschränkung der freien Arztwahl bei Schließung einer Versorgungslücke im vertragsärztlichen System durch Übergangsregelung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine von der Krankenkasse abgelehnte Krankenbehandlung kann vom Versicherten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes durch eine vorläufig vollstreckbare Verpflichtung der Krankenkasse zur - gegenüber dem Leistungserbringer zu erklärenden - Zusage der Kostenübernahme durchgesetzt werden.

2. Die intravitreale (in den Glaskörper des Auges gesetzte) Injektion stellt für sich genommen keine neue Behandlungsmethode iS von § 135 Abs 1 SGB 5 dar, wenn das injizierte und zulässig eingesetzte Arzneimittel im Auge ohne weiteres Zutun des Arztes wirkt.

3. Eine Krankenbehandlung (hier: intravitreale Injektion), die gebührenrechtlich im Einheitlichen Bewertungsmaßstab für ärztliche Leistungen (EBM-Ä) nicht erfasst ist, kann grundsätzlich nicht als vertragsärztliche Leistung erbracht werden. Ob dies auch dann gilt, wenn ihre gebührenrechtliche Erfassung pflichtwidrig unterbleibt, bleibt unentschieden.

4. Bei der Auseinzelung eines "zum einmaligen Gebrauch" bestimmten, intravitreal zu injizierenden Arzneimittels (hier Lucentis) auf zwei dosisgerechte Portionen durch die hierzu ermächtigte Apotheke eines Universitätsklinikums zur unmittelbaren Anwendung im Klinikum handelt es sich nicht um einen Off-Label-Use. Bei fachgerechter Vornahme der Auseinzelung und Injektion entspricht eine solche Behandlung in Qualität und Wirksamkeit dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse und berücksichtigt den medizinischen Fortschritt.

5. Zur Beschränkung der freien Arztwahl, wenn die Krankenkasse eine Versorgungslücke im vertragsärztlichen System zeitweilig durch eine Übergangsregelung schließt.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 21. Dezember 2009 aufgehoben.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Antragstellerin (ASt) verlangt im Wege der einstweiligen Anordnung, dass die Antragsgegnerin (AG), ihre Krankenkasse (KK), die Behandlung der am linken Auge der ASt bestehenden feuchten (neovaskulären) altersabhängigen Macula-Degeneration (AMD) mit dem intravitreal (in den Augapfel) zu injizierenden, neu zugelassenen Fertigarzneimittel Lucentis® durch niedergelassene (Vertrags-) Fachärzte für Augenheilkunde ihrer Wahl mittels Kostenübernahme ermöglicht.

Die AMD ist eine Netzhauterkrankung, die zu Einschränkungen der Sehfähigkeit führt. Bei der so genannten feuchten Form der Erkrankung wachsen neu gebildete Blutgefäße in die Macula ein. Aus den Gefäßen tritt eine die Sehzellen schädigende Flüssigkeit aus, die zur Beeinträchtigung der Sehfähigkeit bis zur Erblindung führen kann. Es handelt sich um die häufigste in den Industrienationen auftretende Erkrankung, die zur Erblindung führt. Derzeit sind in Deutschland - mit zunehmender Tendenz - etwa 500.000 Menschen betroffen (Quelle: Ärzte Zeitung Extra, 19.09.2008).

Die bisher aussichtsreichste Therapie zur Behandlung der feuchten AMD besteht darin, die Bildung von Blutgefäßen in der Netzhaut durch Einsatz von sog. VEGF-Hemmern zu unterdrücken (VEGF: Vascular Endothelial Growth Factor). Zu den VEGF-Hemmern gehört das Arzneimittel Avastin®, das von einer Tochter des Schweizer Pharmaherstellers R. (Genentech, USA) entwickelt und zur Zulassung gebracht worden ist. Der Avastin®-Wirkstoff Bevacizumab wurde in den USA Anfang 2004, in der Europäischen Union Anfang 2005 als Mittel gegen Brust- und Darmkrebs zugelassen. Er unterbindet die Blutversorgung von Tumoren. Seit 2005 zunächst in den USA und nachfolgend in Europa wird das Mittel von Augenärzten zulassungsfremd (“off-label„) bei der Behandlung der feuchten AMD mittels intravitrealer Injektion verbreitet eingesetzt. Dabei wird ein Bruchteil der zur Behandlung für die zugelassene Indikation abgefüllten Menge verwendet. Im Auge hindert Avastin® erfolgreich das Wachstum der Blutgefäße hinter der Netzhaut und hat sich als therapeutischer Standard durchgesetzt. Die Behandlung erfolgt in ca sechswöchigen Abständen und zunächst für ein Intervall (drei Injektionen) und wird sodann nach Lage des Einzelfalles fortgesetzt. Der Arzneimittelpreis je Injektion beträgt wegen der geringen benötigten Menge ca 40,00 bis 50,00 €. Seitens Genentech und R. ist eine Zulassung von Avastin® für die Behandlung der feuchten AMD weder beantragt noch beabsichtigt.

Seit dem Jahr 2006 in den USA und seit Januar 2007 in Europa ist das neue Arzneimittel Lucentis® zur Behandlung der feuchten AMD zugelassen. Lucentis® enthält den VEGF-Hemmer Ranibizumab, der ebenfalls von der R. -Tochter Genentech entwic...

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