Leitsatz (amtlich)

Ein Pflegekindschaftsverhältnis im Sinne von BKGG § 2 Abs. 1 Nr. 6 kann in Ausnahmefällen auch mit einem volljährigen Pflegekind begründet werden.

 

Verfahrensgang

SG Speyer (Urteil vom 19.05.1981; Aktenzeichen S 8 Kg 1/81)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 19. Mai 1981 abgeändert:

Der Bescheid des Arbeitsamtes Kaiserslautern vom 16. September 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 1981 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab April 1980 Kindergeld für ihre Pflegetochter Ingeborg H. zu gewähren.

2. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Mit der Berufung begehrt die Klägerin weiterhin Kindergeld (Kg) gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 6 in Verbindung mit § 2 Abs. 4a des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) für die am … 1959 geborene Ingeborg H., die seit Oktober 1979 in ihrem Haushalt lebt.

Die Klägerin ist 1927 geboren. Sie ist geschieden. Bisher bezieht sie Kg für ihren 1957 geborenen Sohn Detlef, der noch in Berufsausbildung steht, ihren 1969 geborenen Enkel Sebastian S. und ihre 1980 geborene Enkelin Samantha Sc. Die beiden Enkelkinder leben von Geburt an im Haushalt der Klägerin. Dazu gehört inzwischen auch wieder ihre älteste Tochter, die Mutter von Sebastian, die ebenfalls geschieden ist.

Ingeborg H. ist seit dem Tod ihrer Adoptivmutter am … 1972 Vollwaise. Danach lebte sie zunächst bei ihren 1943 geborenen Adoptivbruder, der auch ihr Vormund war. Sie besuchte bis Januar 1980 ein Gymnasium. Ihr Bruder erhielt für sie bis einschließlich Juni 1979 Kg. Die Zahlung an ihn wurde ab Juli 1979 eingestellt, weil Ingeborg sich bereits im Juni 1979 polizeilich in den Haushalt der Klägerin umgemeldet hatte. Sie beendete den Schulbesuch ohne Abitur, ist nicht erwerbstätig, steht der Arbeitsvermittlung aber erst seit dem 28. April 1980 zur Verfügung. Sie bezieht weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe. Bisher erhält sie auch noch keine Waisenrente. Zur Zeit lebt sie von Sozialhilfe.

Das Arbeitsamt Kaiserslautern lehnte den am 29. August 1980 für Ingeborg gestellten Kg-Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 16. September 1980 und Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 1981 ab, weil mit einem familienfremden Volljährigen kein Pflegekindschaftsverhältnis mehr begründet worden könne.

Mit der Klage hat die Klägerin geltend gemacht, sie habe Ingeborg 1979 als Vollwaise in ihren Haushalt aufgenommen und behandele sie wie ein eigenes Rind.

Das Sozialgericht Speyer hat die Klage mit Urteil vom 19. Mai 1981 abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen dieses der Klägerin mit eingeschriebenem Brief vom 29. Mai 1981 zugestellte Urteil richtet sich ihre Berufung vom 11. Juni 1981. Sie trägt ergänzend vor, die volle Integration in die Familiengemeinschaft bedeute, daß sich Ingeborg auch ihrer Betreuungs- und Erziehungsmacht unterordne. Auf jeden Fall habe sich jemand um das alleinstehende Mädchen kümmern müssen. Ingeborg verhalte sich ihr gegenüber wie sich Kinder im allgemeinen ihrer Mutter gegenüber verhielten.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern, die angefochtenen Bescheide aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem frühest möglichen Zeitpunkt Kg für ihre Pflegetochter Ingeborg H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Sie hält das angefochtene Urteil und die angefochtenen Bescheide für zutreffend.

Der Berichterstatter des Senats hat Ingeborg H. über Zeitpunkt, Anlaß und Art der Aufnahme in den Haushalt der Klägerin als Zeugin vernommen und die Klägerin dazu persönlich angehört. Wegen der Ergebnisse dieser Beweisaufnahme wird auf die Vernehmungsniederschriften vom 7. September 1981 verwiesen.

Im übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf die Prozeßakten und die Kindergeldakten Nr. … Nr. … des Arbeitsamts Kaiserslautern Bezug genommen; sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

 

Entscheidungsgründe

1. Die Berufung der Klägerin hat Erfolg. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig. Der Klägerin steht Kg für Ingeborg H. ab April 1980 zu. Für die Zeit bis Januar 1980, d.h. solange Ingeborg noch zur Schule ging, ist ein Kg-Anspruch der Klägerin nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 Nr. 1 BKGG mangels Antragstellung ausgeschlossen. Der am 29. August 1980 gestellte Antrag wirkt gemäß § 9 Abs. 2 BKGG nur bis einschließlich Februar 1980 zurück. Für Februar und März 1980 kann Kg dagegen nicht gewährt werden, weil Ingeborg sich nach dem Abbruch des Schulbesuchs erstmals am 28. April 1980 beim Arbeitsamt gemeldet hat. Bis zu diesem Zeitpunkt stand sie somit der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung, weil die beklagte keine Vermittlungsbemühungen unternehmen könnte bevor die Meldung erfolgte (vgl. Urteil des Senats vom 2. Juni 1980 – L 1 Kg 2/80 –). Ab 27. April 1980 lagen dagegen alle An...

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