Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für den zum Zweck der Arbeitsuche eingereisten Unionsbürger durch einstweiligen Rechtsschutz

 

Orientierungssatz

1. Ist bei dem von einem Unionsbürger gestellten Antrag auf Bewilligung von Leistungen des SGB 2 durch einstweiligen Rechtsschutz der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so ist eine umfassende Folgenabwägung vorzunehmen, welche die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend einstellt.

2. Mit seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland in der Absicht, seinen Lebensmittelpunkt hierher zu verlegen, begründet der Unionsbürger, der für Einreise und Aufenthalt keiner Erlaubnis bedarf, an seinem Wohnort seinen gewöhnlichen Aufenthalt.

3. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2 mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist. Für Unionsbürger gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 12 EG mit der Folge, dass diese nicht von einer finanziellen Leistung ausgenommen werden können, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates erleichtern soll.

4. Ist im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH höchst zweifelhaft, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2, welcher ausschließlich an die Staatsangehörigkeit anknüpft, den Vorgaben des primären Gemeinschaftsrechts standhält, so fällt die Folgenabwägung im einstweiligen Rechtsschutz zugunsten des Antragstellers aus.

5. Der vorläufig zuzusprechende Betrag umfasst die Regelleistung sowie die Kosten für Unterkunft und Heizung.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 13.11.2009 geändert.

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit ab dem 26.02.2010 bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 24.09.2009 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14.09.2009, längstens jedoch bis zum 26.08.2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 687,00 Euro (359,00 Euro Regelbedarf und 328,00 Euro Kosten der Unterkunft und Heizung) zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen.

 

Gründe

Der am 00.00.1955 geborene Antragsteller (ASt) ist italienischer Staatsangehöriger. Ab 1994 lebte er in der Dominikanischen Republik und war auch dort berufstätig. Mit der Absicht, seinen Lebensmittelpunkt hierhin zu verlegen, reiste er am 05.09.2009 in die Bundesrepublik Deutschland ein und sucht seitdem einen Arbeitsplatz. Am Tag der Einreise gab er in der Aufenthaltsanzeige nach § 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) die Arbeitsplatzsuche als Grund seines Aufenthaltes an.

Am 10.09.2009 beantragte der ASt bei der Antragsgegnerin (AG) Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Den Antrag lehnte die AG durch Bescheid vom 14.09.2009 unter Hinweis auf § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ab. Nach dieser Vorschrift sei der ASt, der zum Zwecke der Arbeitssuche eingereist sei, nicht leistungsberechtigt. Hiergegen legte der ASt am 24.09.2009 Widerspruch ein, der noch nicht beschieden ist.

Einen vom ASt ebenfalls gestellten Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) lehnte der Bürgermeister der Stadt X durch Bescheid vom 29.09.2009 mit der Begründung ab, der ASt sei wegen des vorrangigen Anspruchs auf Leistungen nach dem SGB II aus dem Leistungssystem des SGB XII ausgeschlossen. Er sei nicht erwerbsunfähig und habe auf Nachfrage selbst erklärt, es lägen keine körperlichen Beschwerden oder Einschränkungen vor. Über den hiergegen gerichteten Widerspruch des ASt ist bislang nicht entschieden worden.

Am 20.10.2009 hat der ASt beim Sozialgericht Dortmund (SG) beantragt, die AG und den Bürgermeister der Stadt X im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII zu gewähren.

Das SG hat durch Beschluss vom 12.11.2009 das Verfahren abgetrennt, soweit sich der Antrag gegen den Bürgermeister der Stadt X gerichtet hat und Leistungen nach dem SGB XII geltend gemacht worden sind. Den Antrag im Übrigen hat es durch Beschluss vom 13.11.2009 abgelehnt. Es hat seine Entscheidung auf § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II gestützt, der systematisch vor dem von der AG herangezogenen Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II anzuwenden sei. Nach dieser Vorschrift erhalten Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige noch auf Grund des § 2 Abs. 3 FreizügigG/EU freizügigkeitsberechtigt sind, in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts keine Leistungen. Der Gesetzgeber habe mit der Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II die durch Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie des Rates 2004/38/EG vom 29.04.2004 (Abl. Nr. L 158, S. 77...

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