Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsversagung wegen fehlender Erwerbsfähigkeit auf der Grundlage eines arbeitsmedizinischen Gutachtens der Agentur für Arbeit. Pflicht des Grundsicherungsträgers zur Einleitung des Verfahrens nach § 44a SGB 2. Leistungspflicht des Grundsicherungsträgers bis zur Klärung der Zuständigkeit im Verfahren gem § 44a SGB 2. Widerspruchsrecht. Hilfebedürftigkeit. Haushaltsgemeinschaft. Einkommen. Ausbildungsgeld. Prozesskostenhilfe. Erfolgsaussichten im Zeitpunkt der Bewilligungsreife

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Leistungspflicht des SGB II-Trägers nach der Nahtlosigkeitsregelung des § 44a Abs 1 S 7 SGB II setzt nicht erst dann ein, wenn bereits Streit zwischen dem SGB II- und dem SGB XII-Träger über die Erwerbsfähigkeit eingetreten ist. Vielmehr ist der Antragsteller bereits im Vorfeld so zu stellen, als wäre er erwerbsfähig. Der SGB II-Träger darf fehlende Erwerbsfähigkeit nicht annehmen, ohne den zuständigen Sozialhilfeträger eingeschaltet zu haben (Anschluss an BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 10/06 R = BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2).

2. Hält der SGB II-Träger den Antragsteller für voll erwerbsgemindert, hat er Leistungen nach § 44a Abs 1 S 7 SGB II zu erbringen, bis der andere Träger seine Zuständigkeit anerkannt hat, sein Widerspruchsrecht erloschen ist oder die Arbeitsagentur über den Widerspruch entschieden hat.

3. Der SGB II-Träger darf den Antragsteller, den er ausweislich eines arbeitsmedizinischen Gutachtens für voll erwerbsgemindert hält, nicht einfach auf den Sozialhilfeträger verweisen, dem SGB XII-Träger das Gutachten ohne eine Anfrage im Hinblick auf das Widerspruchsrecht übermitteln und eine zunächst ausbleibende Reaktion des Sozialhilfeträgers als Durchführung des Verfahrens nach § 44a SGB II werten.

 

Normenkette

SGB II § 44a Abs. 1, § 7 Abs. 1, § 8 Abs. 1, § 9 Abs. 5, § 11b; Alg-II-VO § 1 Abs. 2; SGB X § 86; SGB I § 16 Abs. 2 S. 2; SGG § 86b Abs. 2, § 73a Abs. 1 S. 1; ZPO § 114 S. 1, § 119 Abs. 1 S. 1

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers im Verfahren L 9 SO 427/15 B ER wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 07.09.2015 geändert. Das beigeladene Jobcenter wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 01.06.2016 bis 30.11.2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Form des Regelbedarfs in Höhe von 306,80 EUR monatlich zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Beschwerde des Antragstellers im Verfahren L 9 SO 428/15 B gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 07.09.2015 wird zurückgewiesen.

Das beigeladene Jobcenter trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Beschwerdeverfahren. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T, I, beigeordnet.

 

Gründe

Die zulässigen Beschwerden des Antragstellers vom 08.10.2015 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 07.09.2015, mit dem es den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt hat, sind im tenorierten Umfang gegen das beigeladene Jobcenter begründet, soweit sich die Beschwerde gegen die Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung richtet, im Übrigen - auch hinsichtlich der Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des erstinstanzlichen Eilverfahrens - unbegründet.

1.) Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (unter a.) ist für die Zeit ab dem 01.06.2016 gegen das beigeladene Jobcenter aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet, im Übrigen unbegründet (unter b.).

a) Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Bestehens von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. BSG, Beschl....

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