Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Unzulässigkeit der Untätigkeitsbeschwerde

 

Orientierungssatz

1. Eine Untätigkeitsbeschwerde ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht statthaft und daher als unzulässig zu verwerfen.

2. Hieran hat das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (BGBl I 2011, 2302; juris: ÜberlVfRSchG) nichts geändert.

 

Tenor

Die Untätigkeitsbeschwerde der Klägerin wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Durch Bescheid vom 12.02.2010 bewilligte der Beklagte der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Klägerin war während des Bewilligungszeitraums bei der L versichert. Mit Schreiben vom 03.03.2010 teilte L der Klägerin mit, dass sie ab dem 01.03.2010 eine Zusatzbeitrag von 8,00 EUR mtl. nach § 242 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) erhebe. Durch Bescheid vom 25.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.04.2010 lehnte der Beklagte den Antrag auf Übernahme des Zusatzbeitrags nach § 26 Abs. 4 Satz 1 SGB II i.d.F. bis zum 31.12.2010 ab.

Am 26.05.2010 hat die Klägerin Klage auf Übernahme des Zusatzbeitrags erhoben.

Mit Schreiben vom 17.10.2011, eingegangen beim Sozialgericht am 18.10.2011, hat die Klägerin gegen das Sozialgericht eine Untätigkeitsbeschwerde an die "vorgesetzte Stelle" eingelegt.

Das Rechtsmittel ist nicht statthaft und daher als unzulässig zu verwerfen.

Nach § 172 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) findet die Beschwerde gegen Entscheidungen der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden der Sozialgerichte statt. Eine anfechtbare Entscheidung des Sozialgerichts liegt hier nicht vor. Die Klägerin rügt vielmehr eine von ihr gesehene Untätigkeit des Sozialgerichts mit einer sogenannten "Untätigkeitsbeschwerde". Untätigkeitsbeschwerden sind nach allgemeiner Auffassung unzulässig, weil es hierfür keine Rechtsgrundlage in Gesetzesform gibt (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer Beschluss vom 08.06.2006 - 75529/01 -; BSG Beschluss vom 19.01.2010 - B 11 AL 13/09 C -, LSG NRW Beschlüsse vom 08.04.2011 - L 19 AS 566/11 B -, vom 30.01.2008 - L 19 B 16/08 AS ER -, vom 04.03.2010 - L 6 AS 304/10 B ER -, vom 29.03.2010 - L 20 AS 324/10 B - und vom 06.12.2010 - L 19 AS 1995/10 B ER- ; LSG Berlin-Brandenburg Beschlüsse vom 30.06.2010 - L 13 SB 49/10 B - und vom 22.08.2011 - L 27 P 42/11 B; offengelassen Bayrisches Landessozialgericht Beschluss vom 28.04.2010 - L 1 R 132/10 B -; a. A. LSG Hessen Beschluss vom 27.12.2011 - L 8 KR 326/11 B für gravierende Fälle richterlicher Untätigkeit). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist verfassungsrechtlich erforderlich, dass Rechtsbehelfe in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sind. Es verstößt daher gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit, wenn von der Rechtsprechung außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffen werden, um tatsächliche oder vermeintliche Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem zu schließen (Bundesverfassungsgericht Plenumsbeschluss vom 30.04.2003 - 1 PbvU 1/02 - und Kammerbeschluss vom 16.01.2007 - 1 BvR 2803/06).

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass nach Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungen eine Untätigkeitsbeschwerde, auch wenn sie in der Vergangenheit in gravierenden Fällen richterlicher Untätigkeit als zulässig angesehen worden ist, nicht mehr in Betracht kommt (vgl. OLG Brandenburg Beschluss vom 06.01.2012 - 13 WF 235/11 - ). Ausweislich der Gesetzesbegründung hat der Gesetzgeber die konkret-präventive Beschleunigungswirkung der neu eingeführten Verzögerungsrüge als verfahrensrechtlich ausreichend betrachtet und von einer Beschwerdemöglichkeit für den Fall der Nichtabhilfe ausdrücklich abgesehen, um die Belastungen für die Praxis begrenzt zu halten (BT-Drs. 17/3802, S. 16). Die von der Rechtsprechung in gravierenden Fällen zum Teil kraft richterlicher Rechtsfortbildung entwickelten Rechtsbehelfe - namentlich eine außerordentliche Beschwerde - hat er mit Blick auf eine fehlende Rechtsbehelfsklarheit für grundsätzlich hinfällig erachtet (BT-Drs. 17/3802, S. 15, 16).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist endgültig, § 177 SGG.

 

Fundstellen

NZS 2012, 599

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