Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. höhere Verletztenrente. Neufestsetzung des Jahresarbeitsverdienstes gem § 90 SGB 7 idF vom 15.4.2015. Auslegung. keine Übergangszeit gem § 90 Abs 1 S 1 SGB 7 aF: mehr als dreijährige Unterbrechung. Anwendbarkeit des § 90 Abs 4 SGB 7 aF. krankheitsbedingter Abbruch der (ersten) Berufsausbildung zur Heilerziehungspflegerin nach dem Real-Schulabschluss. anschließende krankheitsbedingte Beschäftigungslosigkeit. Arbeitsunfall als 21 jährige ehrenamtliche Helferin beim DRK. neuer Ausbildungsvertrag zur Gesundheits- und Krankenpflegerin

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Auslegung von § 90 Abs 1, 2 und 4 SGB VII aF.

 

Orientierungssatz

1. In den zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Versicherungsfall und der Schul- oder Berufsausbildung fallen zeitliche Unterbrechungen, die mit der Schul- und Berufsausbildung notwendigerweise oder regelmäßig verbunden sind. Das sind ua solche, die der Ausbildung eigentümlich, also nicht vom Auszubildenden zu vertreten sind und auf schul- bzw hochschulorganisatorischen Ursachen beruhen. Diese die Ausbildung verzögernden, aber ihr zuzurechnenden Übergangszeiten (zwischen zwei Ausbildungsabschnitten) können in der Regel eine Dauer von bis zu vier Monaten haben.

2. Ist der zeitliche Zusammenhang aufgehoben, kommt es im weiteren Verlauf auf den zeitlichen Abstand zwischen dem Versicherungsfall und der Aufnahme einer weiteren Ausbildung nicht an.

3. § 90 Abs 1 SGB 7 aF bezieht nur deshalb Übergangszeiten ein, weil aus organisatorischen Gründen ein nahtloser Übergang von einem Ausbildungsabschnitt zum nächsten in Deutschland praktisch nicht möglich ist. In der Person des Versicherten liegende Gesichtspunkte (hier: gesundheitliche Gründe) spielen keine Rolle.

4. Soweit im Schrifttum vertreten wurde, dass der Tag, an dem der Ausbildungsvertrag abgeschlossen wird, als Ausbildungsbeginn angesehen werden könne, überzeugt das nicht. Mit Abschluss des Vertrags hatte die Klägern (lediglich) einen sicheren Ausbildungsplatz, sie stand aber noch nicht in einem Ausbildungsverhältnis.

5. § 90 Abs 4 SGB 7 aF ergänzt § 90 Abs 1 SGB aF in den Fällen, in denen keine Erkenntnisse über das zu erreichende Ausbildungsziel zu erlangen sind, und soll - in Abweichung von § 90 Abs 1 SGB VII aF - eine pauschalierte Neufestsetzung unter Abstellen auf die Bezugsgröße ermöglichen. Sie kann damit nur für Versicherte im (frühen) Schulkindalter Geltung erlangen.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 19. November 2020 geändert.

Die Beklagte wird unter Abänderung ihres Bescheids vom 9. Juni 2016 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 12. März 2019 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. April 2019 verurteilt, der Klägerin ab 1. August 2021 eine Verletztenrente nach einem Jahresarbeitsverdienst von 100 Prozent der zu diesem Zeitpunkt maßgebenden Bezugsgröße zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin ein Zehntel der notwendigen außergerichtlichen Kosten aus beiden Rechtszügen zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen ein Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Hildesheim, mit dem ihre Klage auf Gewährung einer höheren Verletztenrente im Anschluss an den Arbeitsunfall vom 14. Juli 2013 abgewiesen worden ist. Sie begehrt die Berechnung der Verletztenrente auf der Grundlage eines höheren Jahresarbeitsverdienstes ≪JAV≫, insbesondere unter Berücksichtigung eines hypothetischen Ausbildungsabschlusses.

Die Klägerin (*31. Juli 1991; Grad der Behinderung ≪GdB≫ 100, Merkzeichen: G, aG, H) verließ die allgemeinbildende Schule im Jahr 2009 mit dem Realschulabschluss. Eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin musste sie im Dezember 2009 krankheitsbedingt abbrechen. Anschließend war sie bis November 2012 krank und ohne Beschäftigung. Unter dem 1. März 2013 unterzeichnete sie einen Ausbildungsvertrag mit der I. -Klinik Northeim GmbH über eine Ausbildung für den Beruf einer Gesundheits- und Krankenpflegerin (Bl 137 des von der beklagten Unfallkasse übersandten Verwaltungsvorgangs ≪VV≫). Als Ausbildungsbeginn war der 1. Oktober 2013 vereinbart; die Ausbildung sollte am 30. September 2016 enden.

Am 14. Juli 2013 war die Klägerin als ehrenamtliche Helferin beim Deutschen Roten Kreuz ≪DRK≫ tätig, als sie auf der Fahrt zu einem Einsatz bei einem Reitturnier in einem Krankentransportwagen ≪KTW≫ verunfallte und sich schwerste Verletzungen zuzog. Zum Zeitpunkt des Unfalls war sie arbeitsuchend gemeldet. Im Jahr vor dem Unfall hatte sie kein Entgelt bezogen.

Die Beklagte erkannte das Ereignis vom 14. Juli 2013 (konkludent) als Arbeitsunfall an, stellte diverse gesundheitliche Beeinträchtigungen als dessen Unfallfolgen fest, lehnte die Feststellung weiterer, im einzelnen angeführter Gesundheitsbeeinträchtigungen als Unfallfolge ab und bewilligte der Klägerin ab dem 15. Juli 2013 eine Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit ≪M...

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