Entscheidungsstichwort (Thema)

Erwerbsminderungsrente. Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Rentenabschlag. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Bei vorzeitig in Anspruch genommenen Erwerbsminderungsrenten ist der Zugangsfaktor auch für Rentenbezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres in Anwendung des § 77 Abs 2 SGB 6 zu reduzieren (Entgegen BSG vom 16.5.2006 - B 4 RA 22/05 R = BSGE 96, 209 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3).

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 11.01.2011; Aktenzeichen 1 BvR 3588/08, 1 BvR 555/09)

BSG (Urteil vom 25.11.2008; Aktenzeichen B 5 R 112/08 R)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 15. Juni 2007 abgeändert.

Die Klage wird insgesamt abgewiesen.

Die Anschlussberufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Kosten beider Rechtszüge sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Berechnung des Monatsbetrages der Rente wegen Erwerbsminderung, insbesondere ob die Beklagte berechtigt war, die persönlichen Entgeltpunkte (pEP) unter Berücksichtigung eines verminderten Zugangsfaktors zu ermitteln.

Mit Rentenbescheid vom 14. Juli 2003 leistet die Beklagte in Ausführung eines von der im Juni 1944 geborenen Klägerin angenommenen Anerkenntnisses vom 27. Mai 2003 (LSG Niedersachsen-Bremen, Az.: L 1 RA 66/02) Rente wegen voller Erwerbsminderung beginnend am 1. Juli 2002. Der Feststellung des Monatsbetrages der Rente legte sie 30,1562 persönliche Entgeltpunkte zugrunde. Dabei berücksichtigte die Beklagte einen für 19 Kalendermonate um 0,057 (19 x 0,003) verminderten Zugangsfaktor von 0,943. Den dagegen erhobenen Widerspruch, mit dem die Klägerin die Verfassungswidrigkeit der Minderung des Zugangsfaktors von 1,0 geltend gemacht hatte, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20. Oktober 2003 unter Hinweis auf die Gesetzeslage als unbegründet zurück.

Mit der dagegen am 27. Oktober 2003 erhobenen Klage hat die Klägerin weiterhin die Verfassungswidrigkeit der Vorschrift des § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) gerügt. Gründe für eine Gleichbehandlung der Gruppe der Bezieher von vorgezogenen Altersrenten und der Gruppe der Bezieher von Renten wegen Erwerbsminderung seien nicht ersichtlich. Während der Bezieher einer vorgezogenen Altersrente den Umfang seiner Rentenminderung durch die zeitliche Stellung seines Rentenantrages selbst bestimmen könne, sei dies einem Rentner, der eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beziehe, nicht möglich. Darüber hinaus hat sich die Klägerin durch das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Mai 2006 (Az.: B 4 RA 22/05 R) bestätigt gesehen.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI sei so zu interpretieren, dass diese Vorschrift die Höhe des Abschlags bei Erwerbsminderungsrenten, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres geleistet würden, auf die Abschlagshöhe begrenze, die für den Zeitpunkt der Vollendung des 60. Lebensjahres gelte. Für Erwerbsminderungsrenten, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres geleistet würden, sei danach der Zugangsfaktor um 10,8 % zu mindern. § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI werde dabei als Grundregel aufgefasst, die festlege, dass grundsätzlich für alle Erwerbsminderungsrenten, die vor Vollendung des 63. Lebensjahres geleistet würden, der Zugangsfaktor um einen Abschlag zu mindern sei. § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI sei dagegen als bloße Berechnungsregel zu verstehen. Erst im Kontext mit Abs 3 sei die richtige Auslegung des § 77 Abs 2 Satz 3 SGB IV ersichtlich. Sinn und Zweck der Regelung des § 77 Abs 2 Satz 3 SGB VI sei die Ergänzung des § 77 Abs 3 SGB VI und nicht die vom BSG angenommene Klarstellung des § 77 Abs 2 Satz 2 SGB VI. Ferner hat die Beklagte die Auffassung vertreten, dass sich aus den Gesetzesmaterialien ergebe, dass der Gesetzgeber Abschläge vom Zugangsfaktor 1,0 auch für Zeiten des Bezuges von Erwerbsminderungsrenten vor Vollendung des 60. Lebensjahres hätte einführen wollen. Auch die beteiligten Institutionen seien von einem solchen gesetzgeberischen Willen ausgegangen. Zudem sei eine derartige Rentenkürzung während des Rentenbezuges ohne jegliche Veränderung in den Verhältnissen im bisherigen Rentenrecht nicht bekannt. Sie stehe in deutlichem Widerspruch zu § 88 Abs 1 SGB VI, der einen umfassenden Besitzschutz für Folgerenten biete. Die strittigen Regelungen seien auch verfassungsgemäß, insbesondere durch die begleitende Übergangsregelung für Rentenbezugszeiten zwischen dem 1. Januar 2001 und dem 31. Dezember 2003 auch verhältnismäßig. Durch die Gefahr von Ausweichreaktionen der Berechtigten der vorgezogenen Altersrenten auf die Rente wegen Erwerbsminderung sei die Gleichbehandlung zudem gerechtfertigt.

Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat die Beklagte mit Urteil vom 15. Juni 2007 verpflichtet, die der Klägerin gewährte Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. Juli 2002 bis zum 30. November 2005 ohne Anwendung der Vorschrift des § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB VI zu zahlen ...

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