Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Versäumung der Widerspruchsfrist. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. isolierte Entscheidung. Vertrauen auf reguläre Postlaufzeiten. Schicksal des Widerspruchsbescheids

 

Leitsatz (amtlich)

1. Über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann isoliert durch gesonderten Verwaltungsakt entschieden werden.

2. Ein Beteiligter darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass eine im Bundesgebiet werktags aufgegebene Briefsendung am folgenden Werktag ausgeliefert wird. Geht die Postsendung verloren oder wird sie verspätet ausgeliefert, ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Dies gilt auch, wenn der Posteinwurf in einen Briefkasten mit Sonnabendleerung erst an diesem Tag erfolgt (vor der regulären Leerungszeit) und die maßgebliche Frist bereits am darauffolgenden Montag abläuft. Weitere Vorkehrungen müssen nicht ergriffen werden. Insbesondere ist ein Beteiligter nicht gehalten, Schriftsätze vorab per Telefax zu übersenden.

3. Bei Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird der in der Hauptsache ergangene Widerspruchsbescheid, mit dem der Widerspruch wegen Verfristung als unzulässig verworfen worden ist, gemäß § 39 SGB 10 gegenstandslos.

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 6. Januar 2016 sowie der Bescheid des Beklagten vom 2. August 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2014 werden aufgehoben.

Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger hinsichtlich der Versäumung der Widerspruchsfrist gegen den Änderungsbescheid vom 10. April 2013 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Der Beklagte erstattet dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Widerspruchsfrist.

Der 1986 geborene Kläger bezog im Jahr 2013 vom Beklagten laufende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Mit Bescheid vom 10. April 2013 minderte der Beklagte die dem Kläger gewährten SGB II-Leistungen erneut, nämlich um 100 Prozent für die Zeit vom 1. Mai bis 31. Juli 2013. Diese Entscheidung begründete der Beklagte damit, dass der Kläger sich trotz ausdrücklicher Aufforderung einem potentiellen Arbeitgeber nicht vorgestellt habe (Pflichtverletzung nach § 31 Abs 1 Nr 2 SGB II).

Der Änderungs-/Sanktionsbescheid wurde dem Kläger am 12. April 2013 per Postzustellungsurkunde zugestellt. Hiergegen legte er durch seine Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 10. Mai 2013 (Freitag) Widerspruch ein, der ausweislich des in der Verwaltungsakte des Beklagten befindlichen Eingangsstempels dort am 16. Mai 2013 einging. Insoweit machte der Prozessbevollmächtigte des Klägers geltend, den Widerspruch am 10. Mai 2013 (Freitag) gefertigt und noch am selben Tag in den Briefkasten an der H. 195 in I. geworfen zu haben (Leerungszeiten: freitags 16.15 Uhr und sonnabends 10.00 Uhr). Entsprechend der von der Post angegebenen generellen Brieflaufzeit von einem Werktag sei mit einem Zugang spätestens am Montag (13. Mai 2013) zu rechnen gewesen. Die Richtigkeit dieser Angaben versicherte der Prozessbevollmächtigte des Klägers ausdrücklich anwaltlich (Schreiben vom 3. Juni 2013).

Der Beklagte lehnte mit dem im vorliegenden Verfahren angefochtenen Bescheid vom 2. August 2013 den Wiedereinsetzungsantrag ab. Der Kläger sei nicht gehindert gewesen, den Widerspruch innerhalb der Widerspruchsfrist einzulegen. Unverschuldete Hinderungsgründe seien nicht vorgetragen worden. Der vom Kläger hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos. Zur Begründung führte der Beklagte ergänzend aus, dass ein verschuldetes Fristversäumnis auch dann anzunehmen sei, wenn ein Schriftstück so kurz vor Fristende abgeschickt werde, dass es nur unter außergewöhnlich günstigen Umständen noch rechtzeitig ankommen könne. Darüber hinaus sei weder die Abgabe des Briefes zur Post am Freitag (10. Mai 2013) nachgewiesen worden noch habe “bestimmt„ gesagt werden können, ob der Briefkasten nach Einwurf des Briefes noch am 10. oder erst am 11. Mai 2013 geleert worden sei (Widerspruchsbescheid vom 11. April 2014).

Zeitgleich mit dem Erlass des im vorliegenden Verfahren angefochtenen Bescheides vom 2. August 2013 (Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) verwarf der Beklagte den Widerspruch gegen den Änderungs-/Sanktionsbescheid vom 10. April 2013 wegen Verfristung als unzulässig (Widerspruchsbescheid vom 2. August 2013 - J.). Die vom Kläger hiergegen beim Sozialgericht (SG) Osnabrück erhobene Klage K. wurde am 6. Januar 2016 zurückgenommen.

Gegen den die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand betreffenden Bescheid vom 2. August 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2014 hat der Kläger am 14. Mai 2014 beim SG Klage erhoben. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat die Richtigkeit seiner Angaben zum Geschehensablauf erneut anwaltlic...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge