Entscheidungsstichwort (Thema)

Aberkennung der Entschädigungsrente wegen Verstoßes gegen Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit

 

Orientierungssatz

1. Erst wenn ein früherer Machtinhaber der DDR jene minimale Rechtsorientierung, die die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit gebieten, mißachtet und willkürlich handelnd elementare Menschenrechte anderen staatlichen "Werten" soweit untergeordnet hat, dass sie im Kern vernichtet wurden, liegt danach ein Verstoß gegen die Grundsätze von Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit vor. Diese Voraussetzungen sind nicht bereits dann anzunehmen, wenn die Handlungsweise des Betroffenen gegen die Grundsätze eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens verstoßen hat.

2. Ein Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit durch einen mit dem politischen Strafrecht der DDR befassten Richter kann nur dann angenommen werden, wenn besondere Umstände hinzutreten und der Richter durch schuldhaftes Verhalten entweder selbst fundamentale Schutzgüter verletzt hat oder es für ihn absehbar gewesen ist, dass solche Verletzungen Folge seines Handelns sein werden (vgl BVerfG, Beschluss vom 21.9.2000 - 1 BvR 661/96). Es kommt daher bei der Beurteilung der richterlichen Tätigkeit darauf an, ob diese gezogenen Grenzen seitens des Richters überschritten wurden.

3. Das Grenzregime ist insgesamt als schwere Verletzung der Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit anzusehen, weil die DDR damit - ohne jedes Maß - ihr Staatsinteresse sogar einem letzten Kern der Menschenrechte der Flüchtlinge übergeordnet hat (vgl BSG vom 30.1.1997 - 4 RA 99/95 = SozR 3-8850 § 5 Nr 2).

4. Wer sich durch seine Mitwirkung an Urteilen gegen Republikflüchtlinge dem menschenrechtswidrigen Grenzregime zur Verfügung gestellt und dieses mitgetragen hat, hat gegen die Menschlichkeit iS des § 5 Abs 1 EntschRG verstoßen.

5. Nach Auffassung des Senats macht es einen Unterschied, ob ein Staat im Einzelfall bei konkreter Gefährdung einen Bürger am Verlassen des Landes hindert oder wenn praktisch die gesamte Bevölkerung unter Androhung der Tötung bzw der Verhängung langjähriger Freiheitsstrafen daran gehindert wird, im anderen Teil des Landes ein besseres Leben zu suchen. Letztere Praxis ist insgesamt als Verstoß gegen die Menschlichkeit zu bewerten.

6. Systembezogene Verfolgungsmaßnahmen zur Unterdrückung von gegen das Regime gerichteten Meinungsäußerungen stellen Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit dar.

7. Die Mitwirkung an Strafaussprüchen, die in krassem Missverhältnis zu den abgeurteilten Straftaten standen, sind als rechtsstaatswidrig einzustufen, auch wenn dies im Rahmen des Strafrechts der DDR möglicherweise allgemeine Praxis war.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 31.10.2002; Aktenzeichen B 4 RA 15/01 R)

 

Tatbestand

Im Streit ist die Aberkennung einer Entschädigungsrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet vom 22. April 1992 (ERG).

Der ... 1922 in M geborene Kläger erlernte den Beruf des Kaufmanns. Seine Mutter wurde als Jüdin 1942 in das Konzentrationslager R und von dort nach A verbracht, wo sie umkam. Der Kläger wurde wegen seiner Abstammung im April 1944 zur Zwangsarbeit nach Frankreich deportiert. Im Dezember 1945 kehrte er nach Deutschland zurück und trat der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei. Bis April 1949 war er in seinem Lehrberuf als kaufmännischer Angestellter tätig und nahm danach bis Mai 1950 an einem Ausbildungslehrgang für Richter und Staatsanwälte in Sachsen teil. Von Juni 1950 bis Oktober 1950 war er als Amtsrichter und von Oktober 1950 bis Mai 1951 als Lehrer und Dozent an dem zentralen Lehrgang für Richter und Staatsanwälte in Bad Sch und B tätig; im Anschluss daran arbeitete er bis August 1952 als Amtsrichter, danach von September 1952 bis April 1956 als Kreisgerichtsdirektor. Von 1956 bis Dezember 1962 war er als Oberinstrukteur an den Justizverwaltungen D, Sch und B beschäftigt, von 1963 bis Dezember 1968 war er Oberrichter am Stadtgericht B Danach war er bis 30. September 1982 als hauptamtlicher Mitarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR im Rahmen der Auslandsaufklärung tätig.

Seit dem 1. Oktober 1982 ist der Kläger Altersrentner und bezieht eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung (laut Rentenbescheid vom 8. April 1997 in Höhe von 2.049,90 DM monatlich).

Die DDR gewährte dem Kläger aufgrund der "Anordnung über die Ehrenpensionen für Kämpfer gegen den Faschismus und Verfolgte des Faschismus sowie für deren Hinterbliebene" vom 20. September 1976 eine Ehrenpension. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands zahlte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) -- Beigeladene zu 2) -- dem Kläger die Ehrenpension zunächst in ihrer ursprünglichen Höhe, allerdings in DM, weiter.

Mit Bescheid vom 19. November 1992 in der Fassung des Bescheides vom 6. Januar 1993 bewilligte sie dem Kläger aufgrund der Regelungen des ERG mit Wirkung vom 1. Mai 1992 ...

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