Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht: Zuerkennung des Merkzeichens “G„. Auslegung eines Klageantrags

 

Orientierungssatz

1. Im sozialgerichtlichen Verfahren über die Zuerkennung eines Merkzeichens “G„ für einen schwerbehinderten Menschen kann das Gericht auch dann zugleich über Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 entscheiden, wenn der Kläger die Feststellung des GdB zwar nicht ausdrücklich beantragt hat, jedoch aufgrund des Umstandes, dass das Merkzeichen einen GdB von mindestens 50 voraussetzt, im Hinblick auf eine zweckentsprechende Rechtsverfolgung der Klageantrag entsprechend ergänzend auszulegen ist.

2. Einzelfall zur Zuerkennung des Merkzeichens „G” bei einem Schwerbehinderten (hier: bejaht).

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. September 2013 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens im vollen Umfang zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens “G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

Bei dem 1939 geborenen Kläger war 2002 ein Gesamt-GdB von 30 festgestellt worden. Auf dessen Verschlimmerungsantrag vom 13. Oktober 2009 stellte der Beklagte bei ihm nach Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen mit Bescheid vom 4. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. September 2010 einen Grad der Behinderung von 40 fest und lehnte die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ ab. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

- degenerative Veränderungen der Wirbelsäule bei Bandscheibenschaden mit Wurzelreizerscheinungen, Cervikal- und Lumbalsyndrom (Einzel-GdB von 30),

- Kniegelenkarthrose beidseitig bei Meniskusoperation (Einzel-GdB von 30),

- Dienstunfallfolgen (Einzel-GdB von 10),

- Periarthrosis humeroscapularis links mit rezidivierenden Schmerzen, Epicondylitis links (Einzel-GdB von 10).

Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der anwaltlich vertretene Kläger “weiterhin die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen G___AMPX_‚_SEMIKOLONX___X„ verfolgt. Mit Schriftsatz vom 8. Februar 2011 hat er vortragen lassen, es lägen die Voraussetzungen für das Merkzeichen “G„ vor, da laut ärztlichen Feststellungen seine Gehstrecke unter 500 Meter liege. Unter dem 23. November 2011 hat er nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) “zur Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen G___AMPX_‚_SEMIKOLONX___X„ beantragt, den Orthopäden Dr. Sch zu hören.

In dem am 14. Mai 2012 bei dem Sozialgericht eingegangenen Gutachten hat der Sachverständige unter Annahme eines Gesamt-GdB von 50 die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ bejaht, wobei er von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen ausgegangen ist:

- Wirbelsäulenschaden im cervikalen und lumbalen Abschnitt mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen (Einzel-GdB von 30),

- Bewegungs- und Belastungseinschränkung beider Kniegelenke mittleren Grades mit erheblicher Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Einzel-GdB von 30),

- Schäden der oberen Gliedmaßen mit Bewegungseinschränkung des linken Schultergelenks geringen Grades (Einzel-GdB von 10),

- Schäden der unteren Gliedmaßen mit geringgradigen Bewegungseinschränkungen des linken Hüftgelenks (Einzel-GdB von 10),

- geringgradige Schwerhörigkeit beider Ohren (Einzel-GdB von 10).

Das Sozialgericht hat das Gutachten des Orthopäden Prof. Dr. Sp vom 28. September 2012 eingeholt, der das vorangegangene Gutachten im Ergebnis bestätigt hat. Der Sachverständige hat folgende Funktionsbeeinträchtigungen ermittelt:

- Wirbelsäulenschaden im cervikalen und lumbalen Bereich (Einzel-GdB von 30),

- krankhafte Störungen an den Kniegelenken (Einzel-GdB von 40),

- Einschränkung im Schultergelenk (Einzel-GdB von 10),

- Schwerhörigkeit (Einzel-GdB von 10).

An dieser Bewertung, insbesondere hinsichtlich der Kniegelenkerkrankung, welcher der Beklagte entgegengetreten ist, hat der Sachverständige auch in seiner Stellungnahme vom 18. März 2013 unter Hinweis auf die in schwerem Ausmaß vorliegenden Bandinstabilitäten festgehalten.

Das Sozialgericht hat - im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung - mit Urteil vom 12. September 2013 den Beklagten verpflichtet, bei dem Kläger ab Oktober 2009 einen GdB von 50 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen “G„ festzustellen. Der Beklagte ist dem mit Ausführungsbescheid vom 9. Juli 2014 nachgekommen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Beklagten, der meint, das Sozialgericht sei zu Unrecht dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Sp gefolgt. Vielmehr seien die Funktionseinschränkungen der Kniegelenke lediglich mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Hieraus ergebe sic...

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