Entscheidungsstichwort (Thema)

einstweilige Anordnung. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Einreise zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Freizügigkeit. Europarechtskonformität. Aufenthaltsrecht. Diskriminierungsverbot

 

Leitsatz (amtlich)

1. Beruht das Aufenthaltsrecht eines Staatsangehörigen von Italien allein auf dem Zweck der Arbeitsuche, hat er gem § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB 2.

2. Zweifel an der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses gem § 7 Abs 2 S 2 Nr 2 SGB 2 bestehen bei vorläufiger Prüfung im Eilverfahren nicht.

 

Orientierungssatz

1. Zum Nichtvorliegen des Arbeitnehmerstatus iS von § 2 Abs 2 Nr 1 bzw Abs 3 FreizügG/EU 2004.

2. Für das Fortbestehen eines Arbeitnehmerstatus trotz Arbeitslosigkeit ist Voraussetzung eine unfreiwillige, durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigte Arbeitslosigkeit.

3. Gem § 3 FreizügG/EU 2004 sind Geschwister keine freizügigkeitsberechtigten Familienangehörige.

4. Wer nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt, ist nicht als nicht erwerbstätiger Unionsbürger gem § 4 FreizügG/EU 2004 aufenthaltsberechtigt.

5. Das Diskriminierungsverbot gem Art 12 EG gilt nicht vorbehaltlos. Eine unterschiedliche Behandlung von Unionsbürgern ist zulässig, wenn sie durch objektive Gründe sachlich gerechtfertigt ist (vgl EuGH vom 23.1.1997 - C-29/95 = NZV 1997, 234 und vom 2.10.1997 - C-122/96 = NJW 1997, 3299).

6. Art 18 EG gewährleistet jedem Unionsbürger zwar grundsätzlich Freizügigkeit, gewährt indes keinen Leistungsanspruch gegen die öffentliche Hand iS eines Teilhaberechts von Unionsbürgern an soziale Vergünstigungen des Aufenthaltsstaates (vgl SG Reutlingen vom 29.4.2008 - S 2 AS 2952/07 und LSG Darmstadt vom 3.4.2008 - L 9 AS 59/08 B ER = NVwZ-RR 2008, 624).

7. Zur Anwendbarkeit des EuFürsAbk.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. April 2008 aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgewiesen.

Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der 1959 geborene Antragsteller besitzt die italienische Staatsangehörigkeit. Ausweislich seines Versicherungsverlaufes bei der Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz hat er in Deutschland seit 1974 insgesamt bereits 62 Monate versicherungspflichtiger Beschäftigung zurückgelegt. In B war er zuletzt von Mai bis August 2002, von Mai bis August 2003 und seit Mai 2007 gemeldet. Im Juni 2007 schloss er einen Mietvertrag über die aus dem Rubrum ersichtliche 46 qm große Wohnung zu einem Mietzins von 435 Euro ab. Am 24. Oktober 2007 erhielt er vom Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin eine Bescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU).

Am 8. Februar 2008 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Mit Bescheid vom 6. März 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 2008 lehnte der Antragsgegner den Antrag mit der Begründung ab, dass der Antragsteller als Ausländer, dessen Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe, keine Leistungen beanspruchen könne.

Auf den am 28. März 2008 gestellten Antrag hat das Sozialgericht Berlin mit Beschluss vom 10. April 2008 den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig - unter Vorbehalt der Rückforderung bei Unterliegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren - ab dem 28. März 2008 Arbeitslosengeld II (ALG II) bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu gewähren. Der Antragsteller erfülle die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sei für ihn als Italiener wirkungslos, da das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) Anwendung finde, wie bereits das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen entschieden habe.

Hiergegen hat der Antragsgegner am 14. April 2008 Beschwerde eingelegt mit dem sinngemäßen Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. April 2008 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzuweisen.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

die Beschwerde des Antragsgegners zurückzuweisen.

Er trägt ergänzend vor, dass er im Oktober 2007 einen knappen Monat im Restaurant “L P„ in B gearbeitet habe, dort aber nicht versichert worden sei, worauf er gekündigt habe. Anschließend habe er von Ersparnissen und der Unterstützung seiner Familienangehörigen gelebt. Sein Bruder und seine Schwester lebten in W bzw. B, weswegen er auch nach B gekommen sei. Er betrachte Deutschland als seinen ersten Wohnsitz.

Mit Bescheiden vom 28. März und 10. Juni 2008 hat der Antragsgegner dem Antragsteller zwischenzeitlich in Umsetzung des Beschlusses Leistungen bis zum 31. August 2008 bewilligt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und au...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge